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Gelähmte müssen sich gedulden

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Regelmässig kann man lesen, dass Querschnittgelähmte dank der Wissenschaft bald wieder gehen können. Doch Schweizer Forscher warnen: Die Entwicklung brauche Zeit, und Fortschritte würden nur langsam gemacht.

Dieser Inhalt wurde am 05. März 2013 publiziert Minuten
Scott Capper, swissinfo.ch

Die so genannten Aussenskelette (Exoskeleton) sorgen immer wieder für Schlagzeilen. Letztes Jahr beendete die 32-jährige Engländerin Claire Lomas den London Marathon mit einem Laufroboter – wenn auch erst 16 Tage nach dem Start.

Der Beinroboter kostete 43'000 Pfund (damals 63'000 Franken). Die hohen Kosten sind ein Minuspunkt dieser Sorte Roboter. Solche Systeme sind extrem teuer und für viele Patienten nicht erschwinglich. Ob eine Versicherung die Kosten übernimmt, hängt von der Lähmung des betroffenen Patienten ab.

Falls die Lähmung die Folge einer Krankheit ist, ist die Invalidenversicherung (IV) lediglich verpflichtet, sicherzustellen, dass ein Patient "einfache und angemessene" Hilfe erhält. Wurde die Querschnittlähmung aber durch einen Unfall verursacht, ist eine andere Versicherung zuständig, und der Patient kann etwas mehr erwarten.

Roboter gibt es nicht in einer Einheitsgrösse. Was dem einen Patienten passt, ist für den anderen keine gute Lösung (siehe Video). Daher werden therapeutische Lösungen gesucht, von denen man hofft, dass sie preiswerter und einfacher umzusetzen sind.

"Es gibt einen eigentlichen Wettkampf darum, wer zuerst die beste Therapie entdeckt", sagt Grégoire Courtine, Hirnforscher an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL). "Es ist ein sehr schwieriges Studienfeld, weil alle der Meinung sind, sie hätten die Lösung und die anderen würden nichts von der Materie verstehen."

Schlagzeilen machen

Die Arbeit von Courtine hatte letztes Jahr für Schlagzeilen gesorgt, namentlich in der New York Times und auf CNN. In einer Studie, die er in der Wissenschaftszeitschrift Science publiziert hatte, konnte er aufzeigen, dass querschnittgelähmte Ratten "lernen" konnten, wieder zu laufen. Das weltweite Interesse an seiner Studie war gross.

Es brauchte ein paar Wochen Gehirn-Rehabilitation in einem Hamsterrad, ein Roboter-Zaumzeug, elektrische und chemische Stimulation – und die Ratten rannten wieder, kletterten Treppen hoch und konnten Hindernissen ausweichen.

Trotz dem Medienhype gibt sich Courtine grösste Mühe zu betonen, dass die Entwicklung seines Systems keine Heilmethode sei. "Falls Leute mit Hilfe eines Laufroboters ein paar Schritte gehen können, ist das wahrscheinlich das Beste, was wir erwarten können. Patienten sagen mir, für sie sei das bereits toll und es würde ihr Leben verändern", sagt er.

"Das ist mein Ziel: Dass Menschen sagen können, dank unserer Arbeit habe sich ihr  Leben verbessert. Doch wir werden diese Patienten nicht die Strasse entlangrennen sehen, das wäre utopisch."

Courtine plant mit seinem Team, ein ambitiöses System zu entwickeln, das dehnbare Elektrodenreihen an der Wirbelsäule mit Medikamenten und der Rehabilitation durch Roboter kombiniert. Doch er will sich nicht kopfüber in diese Entwicklung stürzen.

"Wir gehen systematisch vor. Ich will nicht direkt von Ratten zum Menschen springen, denn es gibt potenziell unsichere Nebenwirkungen der Medikamente." Erste klinische Tests der Elektroden könnten später in diesem Jahr beginnen, zusammen mit dem Roboter-System, das gegenwärtig von einer nichtgenannten Firma entwickelt wird.

Die Medikamente, die für andere Therapien am Menschen bereits zugelassen sind, müssen noch eine Weile auf ihren Einsatz warten. Weil sie in der Nähe der Wirbelsäulen-Verletzung injiziert werden müssen, sollen diese zuerst an Primaten auf schädigende Nebenwirkungen (Neurotoxizität) geprüft werden.

"Wir hoffen, dass wir die Medikamente in drei bis fünf Jahren bei Testpatienten anwenden können, möglichst kurz nach ihrer Verletzung", sagt Courtine. "Die grosse Frage ist, ob die Medikamente bei Menschen wirksam sind."

Hilfe für Schlaganfall-Opfer

Auf den ersten Blick scheint "Ability", ein Zürcher Startup, weniger ambitioniert. Es entwickelt ein System, das die Laufbänder ersetzen soll, die in der Rehabilitation bei Opfern von Schlaganfällen zur Anwendung kommen.

"Jedes Jahr gibt es in der Schweiz 15'000 Überlebende eines Schlaganfalls", sagt Cornel Stuecheli, der junge CEO von Ability. "Wir haben entschieden, uns zuerst auf diese Patienten zu fokussieren und die Mediziner andere Möglichkeiten vorschlagen zu lassen."

Das System der Firma, das auf der natürlichen Laufbewegung aufbaut und sich auf eine bestimmte Aktion beschränkt, wird streng geheim gehalten und von privaten Investoren unterstützt. Dessen Hauptvorteil soll darin liegen, dass es weniger Personen braucht, die bei einer Reha-Sitzung dabei sein müssen. Gegenwärtig sind bis zu drei Therapeuten pro Patient nötig.

Wie das System von Courtine setzt auch die Idee von Ability teilweise an bei Hirn und Nervensystem und deren Fähigkeit, sich selber neu zu "vernetzen", wenn sie stimuliert werden.

Doch das System kann das Hirn auch aus der Gleichung nehmen und sich auf die Tatsache konzentrieren, dass einige motorische Fähigkeiten keine Hirnzellen brauchen, um zu funktionieren, und dass solche wieder erlernt werden können. Man denke nur an Hühner ohne Kopf, die noch minutenlang herumrennen können.

Die Entwicklung sei langsam vorangegangen, doch Stuecheli erklärt, man habe Faktoren wie Einfachheit und Sicherheit der Anwendung sowie das Vermeiden einer "Übertechnisierung" gross geschrieben. "Das Gerät – wie der menschliche Körper – muss für seine Funktion optimiert werden, oder mit anderen Worten: Es braucht eine angeborene Effizienz", betont er.

Der Ability-Chef ist überzeugt, dass seine Lösung besser sein wird als die Nutzung etwa von Laufrobotern. Doch als Geschäftsmann gibt er auch zu, dass die Kostenfrage der entscheidende Faktor für potenzielle Kunden sein wird. Besonders auch für Kliniken, die damit Kunden anlocken wollten.

"Ärzte, Anbieter und Patienten müssen an die Wirkung glauben, damit es funktioniert. Doch der Markt der Gehirn-Rehabilitation wächst schnell, denn die Kliniken sind bereit zu investieren."

Erste Rückmeldungen waren positiv genug, um über das klinische Umfeld hinaus zu schauen. Das Gerät von Ability könnte für ambulante Therapien weiter optimiert werden.

Schliesslich verfolgen Stuecheli und Courtine das gleiche Ziel: Menschen für einige Zeit wieder auf ihre eigenen Beine zu stellen. "Aus dem Rollstuhl zu kommen und wieder eine gewisse Autonomie zu erreichen, ist für Patienten entscheidend", so Stuecheli. "Wichtig ist ihnen, für sich selber sorgen zu können."

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