Was hält die Schweiz zusammen?
Eines der Wunder des Föderalismus in der Schweiz ist die Tatsache, dass es ihm gelingt, ein Land zu einigen, das grosse sprachliche, religiöse und regionale Unterschiede hat.
Man würde denken, dass eine Nation mit vier Sprachen, grossen protestantischen und katholischen Gemeinschaften und stärkeren kulturellen Beziehungen zu ihren Nachbarn als zu einander, keine grossen Chancen des Zusammenhalts hat. Doch die Schweiz ist heute so geeinigt wie je.
Ein Grund für diesen Zusammenhalt ist laut Gregory Fossedal, Autor des Buches "Direct Democracy", das System der direkten Demokratie. Dieses gibt jeder Bürgerin und jedem Bürger des Landes das Recht, auf jeder Staatsebene - lokal, kantonal oder landesweit - eine Abstimmung über irgendeine Frage herbeizuführen.
Ein weiterer Grund liegt in den grossen Kompetenzen der 26 Kantone, die zudem bei der Interpretation der Landesgesetzgebung einen beträchtlichen Ermessens-Spielraum haben.
"Stellen Sie sich vor, sie leben in einem Land, in dem jede einzelne Person ein Parlamentsmitglied wäre", so Fossedal zu swissinfo. "Das ist die Art Macht, welche die direkte Demokratie allen Stimmberechtigten gibt."
Die Macht der Basis
Durch die direkte Demokratie erhält das Volk Macht und wird in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen. Die Schweizer Bevölkerung geht mehr an die Urnen als jedes andere Volk der Welt: Sie kann im Durchschnitt viermal pro Jahr über nationale Fragen abstimmen. "Das gibt den Menschen das Gefühl, dass sie die Politik auf höchster Ebene beeinflussen können", erklärt Fossedal.
Dazu kommen Abstimmungen über Gemeinde- und Kantonalgeschäfte sowie Wahlen in die Lokalparlamente. "Damit wird klar, dass die Schweiz eine der politisch bewusstesten und aktivsten Bevölkerungen der Welt hat", fügt Fossedal hinzu.
"Die Bevölkerung wählt nicht nur alle vier Jahre einmal Vertreterinnen und Vertreter ins Nationalparlament und vergisst dann die Politik", erklärt Politikwissenschafter Hans Hirter von der Universität Bern. "Sie beteiligt sich laufend an politischen Entscheidungen und hat ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber dem Staat."
Laut Hirter hat der Schweizer Föderalismus auch zu einer viel grösseren Dezentralisierung der Macht geführt, als dies in vielen anderen Staaten der Fall ist. "Viele Beschlüsse werden auf Gemeinde- oder Kantonsebene gefasst", erklärt er. "Die Kantone sind verantwortlich für den Vollzug der Gesetze und deren Anpassung an ihre eigenen Bedürfnisse, und auch das verhilft zu einem Gefühl der Einheit und der Teilhabe an der Macht."
Interpretation der Bundesgesetzgebung
Bis zu einer landesweiten Volksabstimmung im Juni über ein Gesetz, das am 1. Oktober in Kraft treten wird, war Abtreibung in der Schweiz verboten. Da die kantonalen Gesundheitsbehörden für die Interpretation der Bundesgesetzgebung verantwortlich sind, waren Schwangerschafts-Abbrüche in vielen protestantischen und städtisch orientierten Kantonen allerdings schon bisher möglich.
Laut Hirter ist das ein Beispiel der sehr pragmatischen Auslegung des Föderalismus in der Schweiz. Dass so viel Macht bei den Kantonen liegt, führt auch zu vielen Innovationen, besonders bei der Sozialpolitik.
"Die medizinisch kontrollierte Drogenabgabe an Süchtige ging von Städten wie Zürich und Bern aus", erklärt Hirter. "Sie waren der nationalen Politik in diesem Bereich über zehn Jahre voraus."
Vergleiche man die Schweiz mit anderen Bundesstaaten wie Deutschland etwa, werde deutlich, wie viel mehr regionale und kantonale Autonomie es hier gebe. "Hamburg versuchte 15 Jahre lang, die gleiche Drogenpolitik wie Zürich einzuführen, wurde aber von der Landesregierung blockiert."
Unterschiedliche Mehrheiten
Sowohl Fossedal wie Hirter weisen darauf hin, dass Beschlüsse zwar nach dem Mehrheitsprinzip gefasst werden, dass es aber nicht immer die gleiche Mehrheit ist, die entscheidet.
Zu einem Thema können die Ansichten der Stimmberechtigten entlang der Sprachgrenzen geteilt sein, bei einem anderen Thema sind es die Konfessions-Zugehörigkeit oder der Unterschied zwischen Stadt und Land, welche für die verschiedenen Positionen zu Politik und Sachfragen verantwortlich sind.
"Dass so viele Menschen bei verschiedenen Themen in immer wieder anderen Kombinationen zusammenfinden, hilft mit, alles zusammenzuhalten."
Laut Fossedal ist die direkte Demokratie der wichtigste Einzelfaktor, der die Schweiz von anderen Ländern unterscheidet, in denen die Menschen viel mehr Schwierigkeiten haben, interne Unterschiede zu überwinden.
Jonathan Summerton
(Übertragen aus dem Englischen: Charlotte Egger)

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