Von Angeklagten zu Anklägern
Neun Schweizer und Schweizerinnen wurden vor einem Jahr während der Proteste gegen den G-8-Gipfel in Genua verhaftet. Nun haben sie die italienische Polizei verklagt.
Festgenommen und geschlagen, dann ins Gefängnis - angeklagt unter anderem wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, was in Italien Haftstrafen bis zu zwei Jahren bedeuten kann.
In dieser Situation befanden sich vor einem Jahr neun junge Schweizer und Schweizerinnen, die aus Anlass des G-8-Gipfels in Genua vom 20. bis 22 Juli an den Antiglobalisierungs-Demonstrationen teilgenommen hatten. Noch heute leiden sie zum Teil unter den Folgen der Polizeigewalt.
Umgekehrte Vorzeichen
Nun hat sich die Anklage in ihr Gegenteil verkehrt. Die Staatsanwaltschaft von Genua ermittelt wegen Verdachts auf schwere Körperverletzung, übler Nachrede und Fälschung von Verhörprotokollen gegen die Polizisten, die die Schweizer festgenommen und "verhört" hatten. Dies bestätigt Anwalt Massimo Pastore gegenüber swissinfo. Er vertritt zusammen mit zwei Kollegen die Interessen der neun Schweizerinnen und Schweizer.
Gemäss Pastore gibt es in den Protokollen etliche Fälschungen; Beweismittel seien künstlich produziert worden. Als eklatantes Beispiel nennt er zwei Molotow-Cocktails. Die Polizei hatte vorgegeben, diese bei den Durchsuchungen in der Schule Diaz gefunden zu haben.
Sie seien jedoch von den Polizisten im Gepäck der Schweizer versteckt worden, so Pastore. Auch eine angebliche Messerstecherei erwies sich als erfunden. Die Expertisen zeigen, dass die Beamten die Sicherheitswesten selbst zerstochen hatten.
Verhaftung als Albtraum
Die 22-jährige Simona Digenti, Studentin der Veterinärmedizin in Zürich, gehört zu den neun verhafteten Schweizer Globalisierungskritikerinnen. Sie wurde in der Kaserne von Bolzaneto festgehalten und später ins Gefängnis von Alessandria gebracht. Sie erstattete wie ihre Kollegen Anzeige gegen die italienischen Beamten.
"Ich leide immer noch unter den Kopfschlägen von damals", erzählt Simona Digenti gegenüber swissinfo. Sie habe Schwierigkeiten sich zu konzentrieren und gelegentlich setze das Gedächtnis aus. Die Erfahrungen von Genua haben bei ihr ein Trauma hinterlassen. Obwohl sie Schweizerisch-italienische Doppelbürgerin ist, ist sie seit den Vorfällen nicht mehr nach Italien zurückgekehrt.
Ihre Anzeige gegen die italienischen Polizisten hält sie für eine Notwendigkeit, doch sie macht sich keine Illusionen: "Ich glaube nicht, dass sich etwas ändern wird." Die Polizei habe die Bewegung kaputt machen wollen, doch ihr eigenes Engagement in den Reihen der Globalisierungskritiker und -kritikerinnen sei gestiegen.
Der Appell von Carlo Giulianis Mutter
Etliche Veranstaltungen erinnern in diesen Tagen an die tragischen Ereignisse von Genua, als die Mächtigen der Erde - abgeschirmt von Strassenschlachten auf der Piazza - über die Weltprobleme diskutierten. Genua hat die 560 Verletzten, die 221 Verhafteten und den toten Demonstranten sowie die Kosten von 40 Mio. Franken noch nicht vergessen.
Das Symbol für die Ereignisse von Genua ist der junge Carlo Giuliani, der durch die Kugel eines jungen, praktisch gleichaltrigen Carabinieri starb. Für seine Mutter Heidi Giuliani geht der Tod des Sohnes "alle etwas an", wie sie gegenüber swissinfo sagt. Deshalb müsse die ganze Wahrheit über die katastrophalen drei Tage ans Licht kommen.
Dieser Tage habe man in der Nähe des Palazzo Ducale eine Fotoausstellung eröffnet, die den Wert des Lebens gegenüber einer Politik des Todes hervorhebe, sagt Heidi Giuliani. Was vor einem Jahr geschehen sei, dürfe sich nicht wiederholen.
Solidarität stärken
Die Klagen der neun jungen Schweizer verfolgen dasselbe Ziel. Ihre Absicht ist es, das Ausmass der von einem Teil der Polizei ausgeübten Gewalt, die Einschüchterung und erlittene Erniedrigung klar zu machen. Damit sich das Erlebte nicht wiederholt.
Sergio Regazzoni
Übertragen aus dem Italienisch: Gerhard Lob

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