Vom Chaos zur Nachkriegsordnung
Nach dem Sieg der USA und Grossbritanniens gegen das Regime von Saddam Hussein herrscht im Irak ein Machtvakuum. Die Besatzungsmächte müssen jetzt alles tun, um Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten.
Schweizer Experten fragen sich, ob sie dazu in der Lage sind.
Das Regime Saddam Husseins ist aufgelöst. "Der Krieg ist gewonnen, aber seltsamerweise ist er noch nicht beendet", sagt Viktor Mauer von der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETH).
Im Norden Iraks werde es noch zu schweren Kämpfen kommen, im Süden komme es zu sporadischen Auseinandersetzungen, und es gebe immer noch Widerstandsnester, erklärt Mauer gegenüber swissinfo. Nahost-Experte Arnold Hottinger drückt es so aus: "Der Krieg ist dann zu Ende, wenn Saddam Hussein gefangen genommen wird oder wenn sein Tod feststeht."
Der nächste Schritt
Am Donnerstagabend hatte das Schweizer Aussenministerium gefordert, die Besatzungsmächte müssten alles in ihrer Macht stehende tun, um im Irak die Ordnung aufrecht zu erhalten und die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Eine Pflicht, die den Besatzungsmächten gemäss den Genfer Konventionen obliegt und zu der sie sich offiziell bekannt haben.
Auch UNO-Untergeneralsekretär Shashi Tharoor hat inzwischen die alliierten Invasionstruppen aufgefordert, endlich für Ordnung zu sorgen.
Ein erster Schritt dazu wäre die Ausrufung eines Waffenstillstandes durch Washington, sagt Viktor Mauer. Danach müssten die US-Truppen Polizeiaufgaben übernehmen, um dem Chaos, Plünderungen und Racheakten Herr zu werden. Um den Frieden im Nachkriegs-Irak zu erhalten, braucht es nach Ansicht Mauers Truppen von 100'000 oder gar 150'000 Soldaten.
Zu deren Fähigkeiten gibt sich Arnold Hottinger gegenüber swissinfo skeptisch: "Ich bin nicht sicher, ob die US-Truppen auf diese Aufgabe vorbereitet sind. Sie haben darin weniger Übung als die Engländer, die in ihren Kolonien solche Übungen gemacht haben. Sie mussten damals für zivile Ordnung sorgen. Die US-Truppen sind eigentlich total auf 'Feuer-Power' geschult."
Welche Rolle für die UNO?
Die Schweiz setzt sich weiterhin für eine zentrale Rolle der UNO bei der Etablierung einer neuen Regierung im Irak ein. Das EDA verweist dabei auf das unveräusserliche Recht des irakischen Volkes auf Selbstbestimmung und auf sein Recht, über die Ressourcen des Landes selbst zu verfügen.
Laut dem Politologen, Historiker und Nahost-Experten Pascal de Crousaz besteht tatsächlich ein Risiko, dass die USA beim Wiederaufbau ausschliesslich amerikanische Firmen zum Zuge kommen lassen. Die Iraker würden so daran gehindert, selbst über ihre natürlichen Ressourcen zu verfügen. "Und das sogar nach einem Abzug der US-Truppen", so de Crousaz zu swissinfo.
Für Viktor Mauer ist klar, dass die USA den Wiederaufbau Iraks lieber ohne UNO oder zumindest mit einer UNO ohne grosse Befugnisse bewerkstelligen wollen. Und Arnold Hottinger doppelt nach: "Die USA wollen das Land selbst regieren, wenn vielleicht auch indirekt." Washington sage, "wir haben den militärischen Job getan, jetzt wollen wir den politischen und wirtschaftlichen Profit daraus".
Die US-Nachkriegsordnung
Gemäss dem stellvertretenden US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz soll es bis zur Bildung einer Übergangsregierung parallel von Amerikanern und Irakern geführte Ministerien geben. Die Verantwortung für öffentliche Dienstleistungen wie die Gesundheits- und Stromversorgung soll allmählich von den US-geführten Ministerien auf die irakisch geführten übergehen.
Einen Zeitrahmen bis zur Bildung einer Übergangsregierung nennt Wolfowitz nicht. Auch sagt er nicht, wie viele Amerikaner nach dem Krieg wie lange in Irak bleiben sollen. Die Pläne könnten sich im Laufe der Zeit noch ändern.
Wolfowitz spricht von einem aus drei Phasen bestehenden Prozess zum Aufbau einer irakischen Regierung. Die erste Phase werde vom Amt für Wiederaufbau und humanitäre Hilfe (ORHA) geleitet, dem US-General a.D. Jay Garner vorsteht. Dieses soll unter Aufsicht des US-Oberkommandos "Mitte" stehen und die Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen sowie die Beamten bezahlen.
In einer nächsten Phase soll eine Übergangsbehörde gebildet werden, in der die Volksgruppen des Landes vertreten sind. Diese soll gesetzgeberische und exekutive Macht erhalten. Garners Amt für Wiederaufbau übernehme damit zunehmend eine beratende Funktion. Die Übergangsbehörde werde mit der Vorbereitung von Wahlen und der Ausarbeitung einer neuen Verfassung betraut, so dass schliesslich ein neues Regierungssystem entstehe.
Neokolonialismus befürchtet
Für Viktor Mauer braucht es für die Übergabe der Macht an eine irakische Zivilbehörde mehr als ein halbes Jahr. Vorstellungen der USA, vielleicht in zwei Jahren schon eine Demokratie im Irak zu schaffen, bezeichnet Arnold Hottinger als unrealistisch.
"Vorstellungen von Leuten wie Wolfowitz, man könne den ganzen Nahen Osten umpolen, sind Illusionen. Das kann vielleicht erreicht werden, aber erst in zwanzig, dreissig Jahren über eine lange, konstruktive Aufbautätigkeit, die ich den Amerikanern nicht zutraue."
Irak brauche einen "starken Mann", sagt Hottinger. Das Land sei nie anders regiert worden. "Aus dem Nichts eine Demokratie zu schaffen, ist nichts anderes als ein Traum."
Das derzeitige Verhalten der USA - "politischer und wirtschaftlicher Profit, Stichwort Öl" - erwecke bei der irakischen Bevölkerung Misstrauen. "Die Iraker wollen nicht von einem fremdem Land oder dessen Marionetten regiert werden", so Hottinger weiter.
"Die USA sollten aufpassen, dass sie nicht auf die Nase fliegen. Sonst werden sie für die nächsten zwanzig Jahre in ein Chaos geraten - in ein neues Vietnam." In Washington gebe es eine "neokolonialistische Theorie", die man umsetzen wolle. "Aber Irak wird den USA zeigen, dass das nicht geht."
swissinfo, Jean-Michel Berthoud
In Kürze
Der Sturz des Regimes von Saddam Hussein hat im Irak ein Machtvakuum hinterlassen. Die USA planen, Recht und Ordnung zu errichten.
Schweizer Experten fragen sich, ob die US-Truppen in der Lage sind, die Sicherheit aufrecht zu erhalten. Der Krieg sei zwar gewonnen, aber noch nicht beendet, ist der Tenor.
Die Pläne Washingtons für eine Nachkriegsordnung, in der die UNO nur eine Nebenrolle spielen soll, stossen bei Schweizer Experten auf Skepsis. Die Errichtung einer Demokratie im Irak sei so nicht möglich. Dazu brauche es auch viel mehr Zeit.

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