Toleranz üben
Indem die Migros ihren Angestellten das Tragen von Kopftüchern erlaubt, will sie ein klares Zeichen des Respekts vor dem Glauben setzen.
Stéphane Lathion, Präsident der Forschungsgruppe Islam in der Schweiz (GRIS), ruft zu einer abgeklärten Debatte zum Thema auf.
Stéphane Lathion hat als Assistent in Religionssoziologie der Uni Freiburg verschiedene Publikationen zur muslimischen Frage verfasst. Darunter auch ein Werk zur europäischen islamischen Identität.
swissinfo: Welche Signale sendet die Migros an die Öffentlichkeit, indem sie das Kopftuchtragen erlaubt?
Stéphane Lathion: Vorausnehmen möchte ich, dass ich dieses Signal als positiv empfinde. Positiv im Sinne, dass die muslimische Präsenz in der Schweiz anerkannt wird, was sich in einer Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Angestellten zeigt.
Der Entscheid zeigt ausserdem auf, dass es zwischen dem Tragen eines Kopftuchs und dem Verrichten einer Arbeit keine Unvereinbarkeit gibt.
swissinfo: Wie steht die Bevölkerung in der Schweiz zum Kopftuch und wie wird darüber diskutiert?
S. L.: In der Öffentlichkeit ist der Einfluss Frankreichs unleugbar, auf jeden Fall in der Westschweiz. Für die Deutschschweiz trifft dies viel weniger zu.
Denn der Islam befindet sich in Österreich oder Deutschland in einer anders gearteten, viel offeneren Situation, als in Frankreich.
Dort handelt es sich bei den Muslimen hauptsächlich um Leute, die aus der Türkei oder Südosteuropa stammen. Da geht es zur Zeit mehr um kulturell und weniger um religiös begründete Forderungen.
Wenn hingegen in Frankreich die Polemik rund ums Kopftuch jeweils aufflammt, dann überträgt sich das sofort auch auf die Romandie. Dies nutzen jeweils die Verfechter eines französisch inspirierten staatlichen Neutralitäts-Verständnisses in Sachen Religion, um die Debatte auch hier neu aufzubringen.
Grundsätzlich finde ich es schade, dass die Kopftuchfrage als Polemik abgehandelt wird. Wir leben hier in einer aufgeklärten Umgebung, was uns erlaubt, Fragen sachlich zu erörtern. Mit anderen Worten, zuerst zu analysieren, um dann auch Grenzen zu setzen.
Um in der Schweiz eine Ausgeglichenheit zu bewahren, ist es wichtig, dass wir keine fundamentalen Positionen einnehmen.
Sondern dass wir zuerst anerkennen, zuhören, argumentieren, um schliesslich mögliche Verbote auszusprechen. So gibt es gute Gründe, beispielsweise einer Lehrerin nahe zu legen, kein Kopftuch anzuziehen.
In dieser Vorgehensweise sehe ich auch eine Form von Respekt. Und in diesem Zusammenhang ist ein allgemein gültiger Entscheid wie jener der Migros von grossem Interesse.
swissinfo: Wie wird die Kopftuchfrage in Frankreich oder in Deutschland diskutiert?
S. L.: In Deutschland ist es von Fall zu Fall verschieden, was durch die Aufteilung in Bundesländer bedingt ist. In Frankreich dagegen birgt das Thema des Islams grossen Zündstoff. Provokationen haben epidemische Reaktionen zur Folge.
Dort sind gezielte Provokationen gewisser muslimischer Gruppen nicht von der Hand zu weisen. Sie nähren erstens Befürchtungen von Nicht-Muslimen und bringen zweitens verantwortungsvolle Muslime dazu, Massnahmen gegen solche Provokationen zu fordern, beispielsweise Gesetze.
swissinfo: Was symbolisiert das Kopftuch eigentlich?
S. L.: Es gibt verschiedene Gründe, ein Kopftuch zu tragen. Für einige ist es ein Teil der Identität und drückt auch ein politisches Engagement aus. Diese Frauen sind aber in der Minderheit.
Für die meisten Frauen symbolisiert das Kopftuch Identität, Religion und vor allem Kultur. Die Gefahr ist nun, die Mehrheit der muslimischen Frauen zu stigmatisieren, aufgrund der kleinen, aber überaus aktiven, fordernden und provokativen Gruppe.
Alle Frauen in denselben Topf zu werfen, ist intellektuell unredlich, und es trägt zur Verschärfung der Diskussion bei.
swissinfo, Pierre-François Besson
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle und Renat Künzi)
Fakten
Die Schweizer Verfassung garantiert die Gewissens- und Glaubensfreiheit.
Alle können ihre Religion frei wählen und ebenso die Art, wie sie diese ausüben wollen.
Es liegt aber in der Hand der Kantone, wie sie die Beziehungen zwischen Kirche und Staat ausgestalten.

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