Sozialbericht 2000: Individualismus gefährdet sozialen Zusammenhalt
Zwei Prozesse haben die Schweiz in den letzten Jahrzehnten kulturell, wirtschaftlich und politisch verändert: die zunehmende Individualisierung und die Veränderungen der wirtschaftlichen Strukturen. Zu diesem Schluss kommt der Sozialbericht 2000.
Der Bericht wurde im Rahmen des Schwerpunktprogrammes "Zukunft Schweiz" des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) erstellt und am Dienstag (20.06.) in Bern der Öffentlichkeit vorgestellt.
Die Untersuchung befasst sich insbesondere mit der Frage, mit welchen Folgen sich die Schweizer Gesellschaft in den letzten 30 Jahren von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft gewandelt hat.
Der Sozialbericht 2000 charakterisiert die gesellschaftlichen Veränderungen mit Hilfe von insgesamt 75 statistischen Kernnziffern. Diese statistischen Grössen sind fünf Themengebieten zugeordnet: Wirtschaft, Politik, Kultur, Umweltschutz und soziale Intergration.
Individualisierung und Veränderung der wirtschaftlichen Strukturen
Die wichtigsten gesellschaftlichen Prozesse der letzten Jahrzehnte waren gemäss dem Sozialbericht 2000 die zunehmende Individualisierung seit Ende der 50-er Jahre und die raschen Veränderungen der wirtschaftlichen Strukturen in den 90-er Jahren.
Der Zürcher Soziologe Manuel Eisner verzeichnete zwischen 1965 und 1973 bei Indikatoren für gesellschaftliche Integrationsprobleme - Mord und Totschlag, Scheidungsrate, Fürsorgefälle, Selbstmord und die Anzahl Drogentoter - einen markanten Anstieg.
Dies signalisiere den Beginn eines Epochenwandels, der sich durch zunehmende Bedeutung der Freizeit und Flexibilisierung in der Arbeitswelt auszeichne, erklärte er vor den Medien.
Dieser Trend ist laut dem Bericht vor allem in städtischem Umfeld besonders ausgeprägt und kann zu Problemen führen. Es bilden sich neue Randgruppen, Gewalt und Kriminalität nehmen zu und gesellschaftliche Institutionen werden destabilisiert. Die Kriminalitätsrate im Allgemeinen ist in den letzten Jahren zwar konstant geblieben, zugenommen haben aber Jugendkriminalität, Einbruch und Gewaltverbrechen.
Auch die Armut bildet seit 20 Jahren wieder ein zentrales Problem der schweizerischen Gesellschaft. Diese negativen Folgen des wirtschaftlichen und kulturellen Wandels könnten gemäss Eisner aber mit neuen Mustern der sozialen Integration aufgefangen werden.
Wertewandel in der Gesellschaft
Die Werte und die Wahrnehmung in der Bevölkerung haben sich im Lauf der letzten Jahrzehnte ebenfalls stark verändert. Während in den 80-er Jahren Umwelt, Drogen und Gleichstellung die Hauptthemen waren, geben seit den 90-er hauptsächlich Sozialversicherungen, Arbeitslosigkeit und Integration von Ausländerinnen und Ausländern zu reden.
Vertrauen in Staat und Regierung nimmt ab
Mit dem Wandel der Gesellschaft hat auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zum Staat und zu den Regierenden abgenommen. Mitte der 70-er Jahre waren noch rund 70 Prozent mit dem Bundesrat "ziemlich" oder "sehr" einverstanden, 1998 waren es nur noch 40 Prozent.
Die frühere Opposition, die Linke, hat heute mehr Vertrauen zu der Regierung als die Rechte. Trotz dem schwindenden Vertrauen der Bevölkerung ist die Regierung heute bei Abstimmungen erfolgreicher als früher. Der Berner Politik-Wissenschafter Andreas Ladner erklärte diesen scheinbaren Widerspruch damit, dass die Regierenden das Vertrauen immer neu erarbeiten müssten. Das Interesse der Bevölkerung an der Politik sei seit Ende der 80-er Jahre zunehmend.
Engagement bei Betroffenheit
Die Leute engagierten sich allerdings vor allem dort, wo sie sich betroffen fühlten. So sei auch die Stimmbeteiligung nicht wie häufig angenommen rückläufig, aber stark abhängig von der Bedeutung der jeweiligen Vorlage.
Nicht nur die Regierung, auch Parteien und Interessensverbände verfügen über immer weniger Rückhalt in der Bevölkerung, wie der Bericht weiter festhält. Die Gesamtzahl der Parteimitglieder und der Anteil der Leute mit festen Parteibindungen sind in den letzten Jahrzehnten gesunken.
Auch die klassischen Interessensverbände, der Bauernverband und der Gewerkschaftsbund, verlieren auf Grund der Gewichtsverlagerung zum Dienstleistungssektor kontinuierlich Mitglieder.
swissinfo und Agenturen

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