Ruinen des Wohlstandes
"Das Zauberlicht, von dem jeder schwärmt der Irland kennt, macht sogar die Bungalows erträglich, die zu Ruinen zerfallen": Der Zürcher Schriftsteller Hansjörg Schertenleib schreibt über Spuren, die der Wirtschaftsboom in der Landschaft seiner Wahlheimat hinterlassen hat.
Tief der Himmel, tief und nahezu schwarz, freilich nicht für lange, denn das irische Wetter ist tatsächlich so unbeständig und in fortwährender Veränderung, wie es das Klischee will. Es dauert jedenfalls bloss einige wenige Minuten, dann haben Windböen Löcher in die Wolkendecke gerissen, Löcher, Risse und Spalten, durch die Lichtspeere fallen, als würden Scheinwerfer auf die Hügelreihen gerichtet, da, da und dort.
Im nächsten Augenblick bringt weiches Licht die Landschaft zum Schweben, dies Zauberlicht, von dem jeder schwärmt, der Irland kennt. Es ist, als habe sich eine verwischte Kopie über die Hügel gelegt, die Konturen scheinen verdoppelt: das Gesicht des Schlafenden über dem Gesicht des Wachen. Dieser Weichzeichner macht sogar die Bungalows erträglich, schön nicht, aber erträglich, die Bungalows, die in den Jahren des Booms überall wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.
Das neue Leben auf Pump
Haus um Haus ist gebaut worden, während Politiker und Banker die Stärke, nein die Unverwundbarkeit des Celtic Tigers priesen und Irinnen und Iren Kredite und Hypotheken aufnahmen, als gebe es kein Morgen, als gebe es nur das Hier und Jetzt, als gebe es nur Wachstum und Erfolg. Kredite für Fernseher, gross wie die Leinwände von Studiokinos, Kredite für zweite und dritte Autos, Tiefkühltruhen, Polstergruppen, Computer, Küchen, Badezimmer und Ferienreisen, drei, vier Mal im Jahr.
Hypotheken für Häuser und, als Finanzanlage, Hypotheken für Ferienwohnungen am Schwarzen Meer in Bulgarien, auf Ibiza, Mallorca oder Madeira. Meine verschämt vorgebrachte Frage, ob dies neue, dies moderne, erfolgreiche Leben, das so gar nichts mehr mit dem Leben der älteren Generation zu tun hatte, ob dies Leben auf Pump nicht vielleicht auf etwas unsicheren Beinen stehe, wurde voller Mitleid belächelt: Ah, listen to the blow-in, he knows better then we do! He thinks he´s the clever one!
Erfolg dank EU-Geldern
Die Häuser, die überall hochgezogen wurden, manchmal buchstäblich fast über Nacht, die Bungalows, die sich in der Landschaft verteilten, als gelte es, jede freie Stelle zu besetzen, waren oft genug protzig, dabei aber schlecht, weil schnell gebaut. Dass rund um Dublin, Galway, Cork und Limerick Reihenhaussiedlungen aus dem Boden gestampft wurden oder riesige Überbauungen entstanden, auf dass der Speckgürtel irischer Städte dicker und dicker werde, war nur ein kleiner Trost – genau wie die Tatsache, dass diese Überbauungen denen in der Schweiz aufs Haar gleichen und mich an Kaninchenställe gemahnen. Irland boomte, Irland baute, Irland hatte mit einemmal Erfolg und machte anderen Staaten vor, was sich mit EU-Geldern alles anstellen lässt.
Viele der Häuser, die in meiner Nachbarschaft am Entstehen waren, wurden, ein erstes Zeichen der Krise, gar nie fertig gebaut. Bungalows blieben ohne Verputz, blieben ohne Türen, ohne Fenster, Dachstöcke wurden nicht gedeckt, Mauern bloss zur Hälfte hochgezogen. Überall standen überquellende Baumulden, lagen zurechtgesägte Plastikrohre, Stücke von Isolationsmatten, Bretter. Grundstücke lagen brach, Wind strich durch offene Fensterlöcher und trieb Plastikverpackungen, wer weiss, was sie enthalten hatten, sowie zerrissene Zementsäcke über die Landschaft, tanzende Vorboten des Zerfalls.
Mahnmale
Als ich 1996 nach Irland ausgewandert war, waren mir all die verlassenen Cottages und Farmhäuser aufgefallen, die langsam zerfielen, Mahnmale eines Irlands der Vergangenheit, Mahnmale des Armenhauses Europas. Häuserwracks, gestrandet zwischen Talflanken, überwuchert von Beeren, knarrend und knirschend im Wind, in sich zusammengesunken, müde von all den Lebensschicksalen, die sie beherbergt, all den Geschichten, die sie mitbekommen hatten, Geschichten von Kälte und Hunger, Liebe und Hass, von Träumen und Fluchten, freiwilligen und erzwungenen. Dächer trugen Kappen aus Moos, Wände schillernde Pilze. Bäumchen wuchsen durch aufgeplatzte Ziegel, Türen tanzten in rostroten Angeln. Pflanzen wohnten in diesen Ruinen der Armut, Tiere, Geister. Menschen nicht, schon lange nicht mehr. In fluchtartig verlassenen Zimmern standen Betten, Truhen, Kerzenstummel lagen verstreut auf Bodendielen, Fotos von Hochzeiten und Beerdigungen, Kleidungsstücke.
Die Immobilienkrise in den USA, die irische Banken in den Abgrund riss und den irischen Staat damit an den Rand des Ruins drängte, diese Krise sorgt nun dafür, dass begonnene Häuser und Siedlungen nie zu Ende gebaut werden können und dass viele, zu viele der neuen Häuser, die fertig geworden sind, verlassen werden müssen, ähnlich wie früher, als Irinnen und Iren ihr Land zu Zehntausenden auf der Suche nach Arbeit verlassen mussten. Wohnungen in den Vororten der Städte stehen leer, Wohnsiedlungen werden zu Geisterorten, menschenleer, verödet, traurig, Bungalow um Bungalow wird geräumt, oft genug zwangsgeräumt, und schon tauchen sie wieder auf, zuhauf, die For Sale-Schilder vor verlassenen Gebäuden, an denen der Zahn der Zeit nagt, und die verblüffend schnell zu Ruinen zerfallen, Ruinen des Wohlstandes.
Gastautoren
Die Neugier zieht immer wieder Schweizer Autoren in die weite Welt hinaus.
Mit leichter Feder bringen sie uns Fremdes näher.
swissinfo.ch hat bekannte und weniger bekannte Autorinnen und Autoren eingeladen, über ihre Beobachtungen in der Wahlheimat zu berichten.
End of insertionHansjörg Schertenleib
Freier Schriftsteller und Übersetzer. 1957 in Zürich geboren und aufgewachsen.
Zu Beginn der Achtzigerjahre war er als Film- und Musikkritiker für verschiedene Zeitschriften tätig.
1991 wirkte er als Hausautor am Theater Basel.
1996 wanderte er nach Donegal in Irland aus. Er hat inzwischen die irische Staatsbürgerschaft angenommen.
Einen Namen gemacht hat er sich mit Romanen und Jugendbüchern, aber auch mit Hörspielen und Theaterstücken.
End of insertionIrland-Schweiz
Die Schweiz hat den Freistaat Irland 1922 mit dessen Eintritt in den Völkerbund anerkannt.
Genf als Sitz des Völkerbunds wurde für den neuen Staat nach Washington und London zur drittwichtigsten Stadt für die diplomatische Tätigkeit.
1934 eröffnete die Schweiz in Dublin ein Generalkonsulat. 1939 folgte die Eröffnung einer Gesandtschaft. Diese wurde 1962 in eine Botschaft umgewandelt. Irland unterhält in der Schweiz seit 1940 eine diplomatische Vertretung.
Die beiden Länder pflegen enge politische, kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen. In den letzten Jahren ist das Handelsvolumen stetig gewachsen.
Die wichtigsten Handelsgüter sind Chemikalien, Maschinen, elektronische Komponenten und Computer.
Die Handelsbilanz ist für die Schweiz stark negativ. 2007 standen den Exporten von rund 1 Mrd Franken Importe von 6 Mrd gegenüber.
Fast 1500 Schweizerinnen und Schweizer leben in Irland.
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