"Anti-Terror-Gesetz öffnet der Willkür Tür und Tor"
Ein neues Gesetz soll die Befugnisse der Polizei zur Bekämpfung der Terrorismusgefahr in der Schweiz erweitern. Weil dagegen das Referendum eingereicht wurde, stimmt die Stimmbevölkerung am 13. Juni darüber ab. Virginie Cavalli, Mitglied des Referendumskomitees, sagt, die geplanten Massnahmen würden die Rechtsstaatlichkeit aushöhlen.
Die Schweiz hat bisher keine gross angelegten dschihadistischen Anschläge erlebt, wie in ihren Nachbarländern. Doch letztes Jahr fanden zwei Terroranschläge im waadtländischen Morges und in der Tessiner Stadt Lugano statt.
In diesem Zusammenhang werden die Stimmberechtigten in der Schweiz aufgefordert, über das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung des TerrorismusExterner Link abzustimmen, das am 13. Juni auf nationaler Ebene zur Abstimmung kommt.
Nützliche Links
Erklärungen des BundesExterner Link
Website des Referendumskomitees "Nein zum Willkür-Paragraphen"Externer Link
End of insertionDas Gesetzesprojekt wurde im vergangenen September vom Parlament genehmigt. Es soll den Strafverfolgungs-Behörden zusätzliche Werkzeuge an die Hand geben, "um mit potenziellen Terroristen und Terroristinnen umzugehen". Diese würden es ermöglichen, Massnahmen zu ergreifen, wenn von einer Person eine Bedrohung ausgeht, "aber die Beweise nicht ausreichen, um ein Strafverfahren einzuleiten".
Als Präventivmassnahme könnte eine solche Person verpflichtet werden, sich zu bestimmten Zeiten auf einer Polizeistation melden zu müssen, die Schweiz nicht zu verlassen, auf ein bestimmtes Gebiet eingeschränkt zu werden oder sich nicht an bestimmte Orte begeben zu dürfen. Diese behördlichen Massnahmen könnten bereits bei Jugendlichen ab 12 Jahren angewendet werden.
Gegen das Gesetz ergriffen verschiedene Gruppen das Referendum: die Jungsozialistische Partei, die Jungen Grünen, die Jungen Grünliberalen, die Piratenpartei und verschiedene Organisationen. Sie sind der Meinung, das Gesetz gehe zu weit geht und schränke die Grundrechte und individuellen Freiheiten ein.
Die Gegnerinnen und Gegner des Gesetzes haben das Komitee "Nein zum Willkür-Paragraphen" gegründet. Virginie CavalliExterner Link, Mitglied des Komitees und Co-Präsidentin der Jungen Grünliberalen Schweiz, glaubt, das neue Gesetz ebne den Weg in eine Überwachungsgesellschaft.
swissinfo.ch: Was ist Ihre Hauptkritik am Anti-Terror-Gesetz?
Virginie Cavalli: Dieses Gesetz basiert auf einer Definition von Terrorismus, die viel zu weit geht und vage formuliert ist. Sie fusst auf der Vorstellung eines potenziellen Terroristen, einer potenziellen Terroristin. Damit können gegen eine Person aufgrund eines blossen Verdachts – ohne konkrete Beweise – verbindliche Massnahmen ergriffen werden, die bis zu neun Monaten Hausarrest gehen können.
Viele dieser Massnahmen können ohne die Kontrolle eines Richters und gegen Minderjährige ab 12 Jahren ergriffen werden. Das öffnet der Willkür Tür und Tor.
Wir sind nicht naiv; der Kampf gegen den Terrorismus ist wichtig. Das sind schwerwiegende Taten, die bestraft werden müssen, aber im Rahmen der Regeln unseres Rechtsstaats.
Dieses Gesetz ist ein Frontalangriff auf das Prinzip der Unschuldsvermutung. Das Liken eines Beitrags in sozialen Netzwerken kann bereits zu einer Überwachung durch die Behörden führen, und das ohne die Kontrolle eines Richters, einer Richterin. Für uns ist dies problematisch.
Fällt die Schweiz im Kampf gegen den Terrorismus nicht weit zurück, wenn das Gesetz abgelehnt wird?
Nein, denn wir greifen nur die polizeilichen Massnahmen an. Die nationale Anti-Terrorismus-Strategie hat zwei weitere Komponenten, die wir nicht bestreiten: die Stärkung des Strafgesetzbuchs und eine Reihe von Präventions- und Reintegrations-Massnahmen.
Wir müssen uns auf wirksame Massnahmen konzentrieren. Wir wollen keine Überwachungsgesellschaft. Ich will das Problem nicht verharmlosen, aber das Parlament muss noch einmal über die Bücher, und ich vertraue darauf, dass es das schnell tun wird.
"Jemanden sechs Monate lang zu Hause einzusperren, wird ihn oder sie nicht daran hindern, nach seiner Entlassung zur Tat zu schreiten."
End of insertionDer Angriff in Morges, bei dem eine Person getötet wurde, und der in Lugano, bei dem zwei Frauen verletzt wurden, konnten nicht verhindert werden. Sollte es nicht mehr Überwachung von mutmasslichen Radikalen geben?
Der Handlungsbedarf ist offensichtlich. Die aktuelle Überarbeitung des Strafgesetzbuchs ist jedoch ausreichend. Ausserdem gibt es bereits rechtliche Mittel, um die Freiheit von Menschen im Fall einer terroristischen Bedrohung einzuschränken.
Wir müssen auch mehr Arbeit im Vorfeld leisten, um die Radikalisierung von Einzelpersonen zu verhindern. Jemanden sechs Monate lang zu Hause einzusperren, wird ihn oder sie nicht daran hindern, nach seiner Entlassung zur Tat zu schreiten.
Wie sollten wir also handeln, um Radikalisierung zu verhindern?
Wir wissen, dass junge Menschen im Internet oder im Darknet radikalisiert werden. Wir müssen der Justiz und den Geheimdiensten mehr Ressourcen geben, um problematische Seiten zu überwachen.
Die Schweiz hinkt in dieser Hinsicht hinterher. Wir müssen die Ressourcen in diesem Kampf priorisieren, bevor wir Massnahmen ergreifen, die am Ende der Kette eingreifen und deren Wirksamkeit recht gering ist.
Die Bundespolizei (Fedpol) versichert, die polizeilichen Massnahmen würden nur etwa zehn Personen betreffen. Reicht Ihnen diese Garantie nicht?
Nur klare Definitionen im Gesetz wären eine ausreichende Garantie. Heute wird die Tür für eine zu breite Anwendung dieser Massnahmen offen gelassen, die somit Politikerinnen und Politiker, Aktivistinnen und Aktivisten oder Journalistinnen und Journalisten betreffen könnten, die sich mit Wort und Tat engagieren.
Das Gesetz zieht keine klaren Linien, und das ist besorgniserregend. Solche Massnahmen sollten nicht ohne gerichtliche Überprüfung angewendet werden dürfen, wie es diese Gesetzesrevision ermöglichen würde. Unsere Rechtsstaatlichkeit muss respektiert werden.

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