"Sehr atypische" Schadenersatzklage gegen Schweiz
Ein Mann, der bei einem Unfall durch ein Auto der Schweizer Botschaft in Washington seine Frau verloren hat, verlangt eine Genugtuung von 10 Millionen Dollar. Sogar für die USA sei dies eine ungewöhnlich hohe Forderung, sagt ein US-Rechtsprofessor.
Harvey Rishikof, der Ehemann des Unfallopfers, verlangt in seiner Klage, die er am 22 Dezember vor dem Bezirksgericht in Washington eingereicht hat, einen Schadenersatz im Umfang von 10 Mio. Dollar (9,4 Mio. Franken).
Trudith Rishikof hatte am 6. Oktober letzten Jahres eine sechsspurige Avenue überquert, als sie von einem Offroader der Botschaft erfasst wurde.
Am Steuer sass ein Angestellter der Botschaft. Beim Fahrer handelt es sich um jenen Mann, der 2008 in Genf seinen damaligen Chef Hannibal Gaddafi, einen der Söhne des 2011 getöteten libyschen Diktators, wegen Misshandlung angeklagt hatte.
Trudith Rishikof, durch ihr 18-jähriges Engagement im Vorstand der Alliance Française in französischsprachigen Kreisen Washingtons bekannt, erlag ihren Verletzungen.
Der Sprecher der Schweizer Botschaft bestätigt gegenüber swissinfo.ch, die Schweizer Regierung habe lediglich aus der Presse über die Klage Rishikofs erfahren: "Es ist das erste Mal, dass wir von dieser Klage gehört haben, offiziell wurden wir noch nicht darüber informiert", sagt Norbert Bärlocher. Die Botschaft habe Anwälte eingeschaltet, um die Verteidigung des Angestellten zu übernehmen.
"Prominenter" Angestellter
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) will sich zur Identität des Angestellten nicht äussern. Doch die Schweizer Presse hat bereits vor einiger Zeit aufgedeckt, dass dieser aus Sicherheitsgründen nach Washington ausgeschleust worden war. Im Klartext: Man befürchtete Repressalien gegen ihn im Zusammenhang mit der Affäre Gaddafi.
Der Botschaftssprecher hält lediglich fest: "Er arbeitete seit Jahren für die Botschaft als Fahrer und Gehilfe." Auf die Frage, ob der Fahrer seit dem Unfall von der Botschaft freigestellt oder beurlaubt worden sei, antwortet Barlocher, der Mann "arbeitet immer noch für die Botschaft, aber nicht mehr als Fahrer".
Laut Bärlocher wurde die Botschaft nach dem Unfall nicht direkt von der Polizei informiert. Am Tag des Unfalls habe sich aber "jemand von der Botschaft an den Unfallort begeben". Zudem habe Botschafter Manuel Sager "einige Tage später" einen Kondolenzbrief an Herrn Rishikof gesendet.
Alle weiteren Fragen beantwortet Bärlocher mit "kein Kommentar". "Bern hat die Leitung" in dieser Angelegenheit, unterstreicht er.
Anfragen für ein Interview mit Harvey Rishikof und seinen Anwälten blieben unbeantwortet.
Einschätzungen des Experten
swissinfo.ch, das im Besitz einer Kopie der Klage des Witwers ist, legte diese dem Zivilrechts-Professoren Michael Krauss vor, der an der George Mason Universität bei Washington lehrt. Die Klage weist gleichzeitig ordentliche wie auch ausserordentliche Aspekte auf.
Laut Krauss ist es "in den USA extrem häufig und sogar normal", einen Anspruch auf die Finanzierungslücke geltend zu machen, die der Tod des Opfers dessen Familie verursache.
Allerdings seien im Fall des tödlichen Unfalls von Frau Rishikof "das Alter des Opfers (knapp 65) und die Tatsache, dass sie keinem Gelderwerb nachging, Faktoren, welche die Finanzierungslücke verringern oder sogar unerheblich machen könnten".
Der Professor gibt weiter zu bedenken, dass es in den USA häufig vorkomme, dass "Anwälte viel mehr Geld verlangen, als sie vor Gericht schliesslich erstreiten können, um in die Schlagzeilen zu kommen und damit Werbung für neue Kunden zu machen".
Normalerweise liege die verlangte Genugtuung bei tödlichen Unglücksfällen "unter einer Million Dollar, etwas mehr lediglich dann, wenn das Opfer ein junger Elternteil war oder jemand, der viel verdiente und dessen Familie daher einen grossen Einkommensverlust hinnehmen müsste".
Die in diesem Fall verlangte Summe sei "sehr atypisch", so Krauss. Ein Schadenersatz "hat in der Justizgeschichte Washingtons noch nie 10 Mio. Dollar erreicht".
Verhalten von Fahrer und Opfer massgeblich
Eine so hohe Summe könnte nur erreicht werden, falls die Familie des Opfers nicht nur Genugtuung, sondern auch Strafschadenersatz verlange, indem sie verschärfende Umstände für den Fahrer geltend mache wie beispielsweise Alkoholmissbrauch, das Benutzen eines Mobiltelefons am Steuer oder ein anderes Widerhandeln gegen die Verkehrsregeln zum Zeitpunkt des Unfalls.
Allerdings steht in der Klage nichts von solchen Umständen. "Der verlangte Betrag ist sehr hoch" für diese Art von Beschwerde, ergänzt der Professor der George Mason Universität.
Auf jeden Fall werde der Ausgang der Klage, falls es zu einer Verhandlung und nicht zu einer gütlichen Einigung komme, vom Verhalten des Fahrers und des Opfers während des Unfalls abhängen. Hat der Fahrer die Verkehrsregeln befolgt? Hat das Opfer die Strasse auf einem Fussgängerstreifen überquert?
Besonders das Verhalten des Opfers spielt in Washington eine wichtige Rolle, ist es doch einer von sechs US-Bundesstaaten und Territorien, in denen den Angeschuldigten bei einem fahrlässigen Fehlverhalten des Opfers, das zum Unfall beigetragen hat, überhaupt keine Schuld trifft.
"Die einzige Ausnahme dieser Regel der 'contributory negligence' ist, dass falls der Angeschuldigte das Gesetz gebrochen hat, er die Schuld voll auf sich nehmen muss, auch wenn das Opfer fahrlässig gehandelt haben sollte", so Michael Krauss.
Die Affäre Gaddafi
15. Juli 2008: Hannibal Gaddafi und seine Frau Aline werden in einem Genfer Hotel festgenommen wegen Verdachts auf Misshandlung von Hausangestellten. Zwei Tage später werden sie gegen Kaution aus der Polizeihaft entlassen.
Juli 2008: In Libyen werden zwei Schweizer Geschäftsleute festgenommen wegen angeblicher Verstösse gegen Einwanderungs- und andere Gesetze.
Jan. 2009: Ein Treffen von Bundesrätin Calmy-Rey mit Gaddafi-Sohn Saif al-Islam Gaddafi am WEF bringt keinen Durchbruch.
Apr. 2009: Libyen und das Ehepaar Gaddafi reichen eine Zivilklage gegen den Kanton Genf ein.
Juni 2009: Libyen zieht die meisten seiner Gelder von Schweizer Bankkonten ab.
Aug. 2009: Bundespräsident Hans-Rudolf Merz entschuldigt sich in Tripolis beim libyschen Regierungschef Al Mahmudi. In einem Vertrag will man die bilateralen Beziehungen wieder herstellen und ein Schiedsgericht einsetzen.
Sept. 2009: Merz trifft Gaddafi in New York. Dieser versichert ihm, sich persönlich für die Freilassung der Festgehaltenen einzusetzen.
Später werden die beiden Schweizer während einer ärztlichen Kontrolle an einen unbekannten Ort gebracht.
Nov. 2009: Der Bundesrat sistiert das Abkommen mit Libyen. Die restriktiven Visa-Massnahmen gegenüber Libyern bleiben. Die beiden Schweizer werden wieder auf die Botschaft in Tripolis gebracht.
Dez. 2009: Die Beiden werden wegen Visavergehen zu je 16 Monaten Haft und rund 1600 Fr. Busse verurteilt. Später werden diese Urteile gemildert.
14. Feb. 2010: 188 Libyer sind im Schengen-Computer-System auf der schwarzen Liste und erhalten kein Visum.
22. Feb. 2010: Max Göldi wird von den libyschen Behörden ins Gefängnis gebracht. Rachid Hamdani verlässt Libyen und trifft am 23. Februar in der Schweiz ein.
25. März 2010: Die Schweiz hebt (oder reduziert drastisch) ihre "schwarze Liste" mit libyschen Staatsbürgern.
28. März 2010: Libyen und die EU kündigen die Aufhebung der Visaeinschränkungen beider Seiten an.
10. Juni 2010: Max Göldi kann das Gefängnis verlassen und erhält seinen Pass.
13. Juni 2010: Nach fast 2 Jahren mit Zwangsaufenthalt und Haft kann Max Göldi Libyen verlassen.
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