Mit Schweizer Energie ein Dorf erneuern
Ein brandenburgisches Dorf erfindet sich neu, und ein Schweizer ist mit dabei. Seit fast 20 Jahren lebt der Energieplaner Martin Merk in Wulkow bei Frankfurt (Oder), das nach der deutschen Wiedervereinigung eine ökologische Dorferneuerung wagte.
Es sollte der Abschied vom Sommer sein. Doch als die Mitglieder des Ökospeicher-Vereins in Wulkow am letzten September-Wochenende ihr Herbstfest feierten, war der Sommer dem Herbst längst gewichen.
Trotz des Regens kommen Besucher, und die Wulkower bieten auf dem Markt ihre Produkte an: Obst und Gemüse, Brot aus dem Holzofen, Fleisch und Socken aus Schafwolle – alles aus eigener Herstellung. Seit Wulkow 1991 ein Konzept zur ökologischen Dorferneuerung umgesetzt hat, gibt es hier ökologische Landwirtschaft mit extensiv gehaltenen Rindern und Schweinen, Kräutergärten und Holunderplantagen – und dem Büro des Schweizer Energieplaners Martin Merk.
Der aus dem Thurgau stammende Merk geht über das Fest, unterhält sich mit Besuchern und zeigt ihnen den Speicher, nach dem der Verein benannt ist. Das Café im Erdgeschoss des Speichers ist gut besucht, und Merk freut sich, als er das letzte Stück Rüeblikuchen – nach Schweizer Rezept - ergattert.
Ökologische Umgestaltung
1991 ist Merk mit Frau und Tochter nach Wulkow gekommen – erst aus Neugier. In der Schweizer Sonnenenergie-Zeitung hatte er gelesen, dass die Wulkower einen ökologischen Neuanfang wagen wollten, um ihr Dorf vor dem wirtschaftlichen Aus zu retten. Nach der Wende war die Arbeitslosigkeit in Wulkow hoch, Kindergarten und Dorf-Laden sollten geschlossen werden.
Eine Gruppe Engagierter um die Bürgermeisterin und den Pfarrer gründete damals den Ökospeicher-Verein, der eine nachhaltige Dorf- und Regionalentwicklung zum Ziel hat.
"Das Dorf hat viel Dynamik ausgestrahlt", sagt Merk. "In der Schweiz ist schon alles getan. Hier aber war man in einer Pionierphase." Seine Frau und er blieben in Wulkow. Sie betreibt nun den Bio-Hof im Dorf, er gründete ein Ingenieur-Büro und bietet Energieberatung und Projektplanung im Bereich der erneuerbaren Energien an.
Jetzt kommt wieder der Demokrat
Inzwischen fühlt sich der "Edelausländer", als der Merk, wie er sagt, oft betrachtet wird, im flachen Brandenburg zu Hause. "Als Schweizer Mittelländler geniesse ich das Unverbaute. Ich kann in fünf Minuten mit dem Fahrrad irgendwo sein, wo ich keinen Menschen und keinen Strommasten mehr sehe", sagt er.
Merk engagiert sich in der regionalen Energie- und Umweltpolitik und ist Vorstandsmitglied des Ökospeicher-Vereins. Als Verantwortlicher für den Energiebereich des Vereins und Verfasser des Wulkower Energiekonzepts war er auch massgeblich daran beteiligt, dass der Gemeinde 1994 der Deutsche Umweltpreis verliehen wurde.
"Ich kann hier einen positiven Beitrag leisten", sagt Merk. "Vor zwanzig Jahren hatte ich den Anspruch, mein Schweizer Know How in Wulkow auszuprobieren. Heute entwickle ich mich mit allem hier mit."
Nur sein Demokratieverständnis sei noch immer ein anderes. "Hier ist immer die Frage: Wer hat den Hut auf? Aber ich denke nicht gern in Chefrollen." Merk bezeichnet sich als "konsenssüchtig". Wenn er dann wieder einmal versuche, Mehrheiten zu schaffen und allseitige Zufriedenheit zu erzeugen, sagen seine Mitstreiter oft: "Jetzt kommt wieder der Demokrat."
Die mit dem Ufo
Überregional bekannt ist Wulkow vor allem wegen des "Ufo", einem Niedrigenergiehaus in Form einer fliegenden Untertasse, das eigentlich "Domespace" heisst und von einem französischen Architekten entwickelt worden ist. Das Haus wird über Erdwärme beheizt, für Warmwasser sorgt Sonnenenergie, und die Abwässer werden in Pflanzenkläranlagen aufbereitet.
Ursprünglich als Vereinshaus gebaut, dient das Ufo heute als Ferienhaus und damit als Anziehungspunkt für Touristen und Einnahmequelle für den Verein. Auch Dieter Moor hat hier mal gedreht.
"Anfangs waren wir im Ufo zu weit weg vom Rest des Dorfes", sagt Merk. "Wir galten als die Spinner mit dem Ufo."
Nicht alle machen mit
Auch heute nutzen längst nicht alle im Dorf erneuerbare Energien oder finden das, was der Ökospeicher-Verein macht, gut. Nur rund ein Drittel der Wulkower sind Mitglied im Verein.
"Wenn Wissen fehlt, wollen die Leute nichts damit zu tun haben", sagt Norbert Hein, der 1950 in Wulkow geboren ist. Nach der Wende hatte der gelernte Feinwerktechniker seinen Job verloren. Als Mitarbeiter des Netzwerks Bio-Festbrennstoff, das Merk mit initiiert hat, setzt sich Hein heute dafür ein, das Wissen über erneuerbare Energien zu verbreiten.
"Ohne den Verein und die ökologische Linie würde es hier heute ganz schlecht aussehen", ist Hein überzeugt. "Die jungen Leute würden wegziehen und das Dorf aussterben. So aber hat Wulkow einen grossen Schritt nach vorn gemacht."
Ökospeicher e.V.
Der Ökospeicher e.V. wurde 1991 als gemeinnütziger Verein gegründet und verfolgt die nachhaltige Dorf- und Regionalentwicklung.
Die Mitglieder sanieren den Speicher im Dorf, setzen Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien um und engagieren sich in der Umweltbildung.
Sie sind ausserdem Mitglied in mehreren regionalen Initiativen und Netzwerken, wie zum Beispiel dem Netzwerk Bio-Festbrennstoff, und arbeiten in verschiedenen Gremien mit.
Wulkow
Wulkow liegt im Landkreis Märkisch-Oderland/Brandenburg und hat 229 Einwohner (Stand 2006). Seit 2002 ist es Ortsteil der Stadt Lebus nahe Frankfurt Oder an der Grenze zu Polen. Schon zu DDR-Zeiten sollte das Dorf "leergewohnt" werden, die Instandhaltung der Gebäude und Infrastruktur wurde nicht mehr staatlich unterstützt.
Seit der ökologischen Dorferneuerung ab 1991 ist Wulkow Brandenburgs Modelldorf für ökologische Dorfentwicklung. 1994 erhielt die Gemeinde den Deutschen Umweltpreis, und im Jahr 2000 war das Dorf Aussenstandort der Weltausstellung.

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