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Wenn Schweizer zu Flüchtlingen werden

Zehn junge Regisseure und ein gemeinsames Ziel: einen politischen Film realisieren über die Schweiz, bedroht durch eine Wolke namens Isolation. Das ist die Grundidee von "Heimatland", der am Filmfestival Locarno im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden kämpft.

Dieser Inhalt wurde am 11. August 2015 - 16:30 publiziert
Stefania Summermatter, Locarno
Auf der Flucht vor einer Katastrophe sucht die Schweizer Bevölkerung Schutz in ihren Nachbarländern. Doch die Europäische Union hat ihre Grenzen geschlossen. Nur EU-Bürger werden durchgelassen. pardolive.ch

Die Schweiz hat den nationalen Notstand ausgerufen. Eine mysteriöse Wolke war zuvor aus dem Nichts erschienen und bedroht seither das Land. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich ein Sturmwind von unglaublicher Stärke entfesseln wird – mit unabsehbaren Folgen. Eine Naturkatastrophe? Nicht wirklich, denn diese grosse schwarze Wolke macht an den Landesgrenzen Halt. Nur die Schweiz ist davon betroffen, oder wird vielmehr damit bestraft.

Mit stilistischen Elementen aus dem Katastrophenfilm haben acht junge Schweizer Regisseure und zwei Regisseurinnen diese Metapher eines auf europäischer Ebene immer isolierteren Landes gezeichnet, das anderen gegenüber zunehmend misstrauischer wird, besonders gegenüber Einwanderern. Diese Wolke, welche "die Sicherheit und den Frieden in der Schweiz" bedroht, kommt allerdings nicht aus dem Ausland, wie man glauben könnte, sondern aus der konservativen Urschweiz.

Der am internationalen WettbewerbExterner Link in Locarno präsentierte Film "Heimatland"Externer Link will politisch sein. Er ist eine Widerstandserklärung einer neuen Generation von Filmemachern.

"Dieser Film entstand aus dem Wunsch der Selbstbesinnung, der Reflexion über die Art und Weise, wie wir leben", sagt Regisseur Jan Gassmann, 32 und gemeinsam mit dem 30-jährigen Michael Krummenacher Promotor des Projekts. "Es geht aber nicht darum, irgendjemanden zu verurteilen, denn wir wissen, dass wir selber Teil des Problems sind. Wir haben die Fähigkeit verloren, Beziehungen zu unseren Nachbarn zu knüpfen."

Die Idee zu "Heimatland" entstand vor vier Jahren, also lange vor dem Volks-Ja zur "Masseneinwanderungs-Initiative", das am 9. Februar 2014 das Prinzip der Einschränkung der Einwanderung durch Kontingente und Maximalquoten in der Bundesverfassung festschrieb. "Die Wirklichkeit hat uns eingeholt", sagt Gassmann.

Und sein Kollege, der 32-jährige Westschweizer Lionel Rupp, ergänzt: "Wenn wir uns weiter isolieren, uns als Modellland sehen und die Existenz eines Problems verneinen, werden wir gegen eine Wand knallen."

In einem Innerschweizer Dorf greift die Bevölkerung zu den Waffen, um sich gegen unwahrscheinliche Plünderungen durch Ausländer zu verteidigen. pardolive.ch

Mit dieser Wolke konfrontiert, reagieren alle Figuren des Films etwas unterschiedlich, zum Teil absurd, aber fast nie solidarisch. Die Bedrohung bringt die wahren Bedürfnisse der Menschen ans Licht, ihre Ängste und Hoffnungen – und genau darauf wollten die Regisseure ihren Akzent setzen.

Es gibt solche, die bleiben wollen, wie die alte Dame, die sich in ihrem Haus verschanzt. Die Jungen wollen Party machen. Eine Polizistin muss sich mit dem Geist eines Afrikaners auseinandersetzen, den sie getötet hat. Rechtsextremisten bewaffnen sich, um sich vor einem geheimnisvollen fremden Plünderer zu schützen, töten aber schliesslich einen Nachbarn. Nur sie schliessen sich gegen einen gemeinsamen Feind zusammen.

Und dann gibt es jene, die sich dazu entschliessen, das eigene Land zu verlassen und Zuflucht in einem Nachbarland zu suchen. Im Unwissen, dass die Europäische Union angesichts einer Million Schweizer Flüchtlinge längst ihre Grenzen geschlossen hat. Die Schweiz findet sich so auf einmal auf der anderen Seite des Zaunes.

Lediglich eine kroatische Familie kann dank ihrer EU-Pässe die Grenze überqueren. Fast die gleiche Szene, wie sie Markus Imhoof im Film "Das Boot ist voll" vor 30 Jahren gedreht hatte. Nur dass es damals die Schweizer waren, die jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland nicht in die Schweiz einreisen lassen wollten.

Im Unterschied zu den apolitischen amerikanischen Filmen gibt es in "Heimatland" weder Helden noch ein Happyend. Denn laut den Regisseuren sind die Kraft des Kollektivs, die Solidarität, die Verbundenheit der einzige Ausweg aus dem Isolationismus.

Die Regissseure von "Heimatland", von hinten links: Michael Krummenacher, Jan Gassmann, Mike Scheiwiller, Tobias Nölle, Carmen Jaquier, Benny Jaberg, Lisa Blatter, Gregor Frei, Lionel Rupp, Jonas Meier. pardolive.ch

Das Kollektiv ist ausserdem auch der Motor dieses Projekts und steht für eine interessante Entwicklung des Schweizer Kinos. Überzeugt von der Notwendigkeit, einen politischen Film über die Schweiz zu drehen, luden Jan Gassmann und Michael Krummenacher rund dreissig junge Filmemacher ein, das Thema einer bevorstehenden Bedrohung zu erkunden. Die zehn ausgewählten Regisseure konzipierten darauf gemeinsam die Realisation von "Heimatland", der nicht ein simpler Episodenfilm ist, sondern eine Collage von Geschichten, die auf schlüssige Weise zu einer einzigen werden.

Zahlreiche Personen, die im Film mitspielen, sind nicht professionelle Schauspieler. "Wir wollten neue Gesichter, und besonders wollten wir die sprachlichen Charakteristiken jeder Region respektieren und verhindern, Schauspieler mit einem standardisierten Dialekt einzusetzen", sagt Krummenacher.

"Heimatland" ist sicher ein kollektiver Film, die Regisseure aber sind mehrheitlich Männer aus der deutschsprachigen Schweiz. So findet sich unter ihnen kein einziger Tessiner, zwei sind Romands und zwei Frauen. "Wir hätten gerne eine etwas besser austarierte Zusammensetzung gehabt und besonders die Vielfalt des weiblichen Schweizer Kinos spiegeln wollen", gibt Produzent Stefan Eichenberger zu. "Doch die Projekte wurden nicht auf Grund von Quoten ausgewählt. So wollten wir verhindern, dass nicht auch wir in die typische Falle des Schweizer Kompromisses tappen."

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