Digitale Patientendaten: eine umstrittene Idee
Die elektronische Patienten-Datenbank ist eines der ehrgeizigsten Informations-Projekte unserer Zeit. Trotz Zugeständnissen für mehr Sicherheit und einer besseren Bewirtschaftung wurde ihre zügige Einführung wegen Bedenken in Sachen Datenschutz verzögert.
Die Idee ist attraktiv: Gesundheitsexperten wie Ärzte, Apotheker, Versicherer und Gesundheitsbehörden, aber auch die Patienten selber, hätten rund um die Uhr Zugang zu Gesundheitsdaten, Bildern und Rezepten.
Das System hat zum Ziel, durch raschere Diagnosen die Behandlungen zu verbessern und unnötige Untersuchungen sowie Mehrfach-Rezepte zu vermeiden. Eine erste Analyse hat ergeben, dass alle profitieren würden, wenn auch nicht sofort, weil die Mehrheit der Ärzte noch nicht über die nötigen Einrichtungen verfügt.
Die erste Hürde ist die Aufbewahrung umfassender Informationen. "In modernen Kliniken ist die Rede von einem Datenvolumen von etwa 20 Terabytes pro Patient", sagte René Fitterer von der Software-Firma SAP kürzlich am Schweizer e-Health-Gipfel. "Heute gibt es eine Fülle unstrukturierter Daten, nicht-standardisierter Daten wie Bilder, Videos und Texten."
Software-Anbieter und Telecom-Unternehmen wie die Swisscom betrachten die Informations- und Kommunikations-Technologien (ICT) als ihr Revier, aber auch kleinere Firmen interessieren sich für diesen attraktiven Markt.
"Der Begriff 'e-Health' hat unter den ICT-Spezialisten eine regelrechte Goldrausch-Euphorie ausgelöst", sagte Felix Wiegandt, Berater bei der IT-Firma Osun, gegenüber swissinfo.ch. "Es ist ein Riesen-Geschäft, deshalb wollen alle Spieler auf dem Feld ein Stück des Kuchens ergattern."
Swisscom bietet der Schweizer Bevölkerung auf seiner Plattform Evita bereits eine elektronische Gesundheits-Datei an. Gemäss einer von Swisscom in Auftrag gegebenen Umfrage haben sich 72% der Befragten für einen elektronischen Datenaustausch ausgesprochen.
Diskretion wird zugesichert
Noch unklar ist jedoch, wo die Informationen aufbewahrt werden, und wer zu welchen Daten Zugang haben soll. Sollten diese wichtigen Fragen einmal gelöst sein, müssen die Patienten die Garantie haben, dass alles unternommen wird, damit die medizinische Diskretion eingehalten und das Risiko von Datenmissbrauch reduziert wird.
Patientinnen und Patienten haben Vertrauen in ihre Ärzte und vertrauen ihnen sensible Informationen zu ihrer Gesundheit an. Falls diese in falsche Hände gelangen, könnte sich dies für sie oder ihre Familien sowohl wirtschaftlich wie sozial nachteilig auswirken.
"Das Vertrauen zwischen Patient und Arzt ist für eine erfolgreiche und effiziente Behandlung zentral", schrieb die Verbindung der Schweizer Ärzte FMH in einem Kommentar zur elektronischen Patienten-Datenbank. "Eine Auflösung dieses Vertrauensverhältnisses könnte zu unnötigen oder gar gefährlichen Untersuchungen oder Behandlungen führen."
Der Regierung ist daran gelegen, eine breitabgestützte Lösung zu finden. Zur Zeit ist das Gesundheits-Departement damit beschäftigt, fast 100 Eingaben zu sichten, die es von Kantonsregierungen und Interessengruppen während des Konsultativ-Verfahrens erhalten hat.
Die wichtigsten Fragen betreffen die Anreize für die Ärzteschaft sowie die Anwendung der Sozialversicherungsnummer als Identifikation, wie Salome von Greyerz, Leiterin der Sektion Strategie und Gesundheitspolitik im Bundesamt für Gesundheit (BAG), sagte.
Gemäss den laufenden Vorschlägen sollen die Patienten Zugang zu ihren Daten und das Recht auf Selbstbestimmung haben. Sie sollen entscheiden können, welche Daten für wen zugänglich sind, und ihre Einwilligung können sie jeder Zeit rückgängig machen.
"Die Informationen werden verschlüsselt, und der Patient ist souverän", erklärte von Grezyerz gegenüber swissinfo.ch. "Es gibt auch keine zentrale Aufbewahrung der Daten: Sie bleiben dezentral, dort, wo sie erbracht wurden, sei das im Spital, beim Arzt oder im Labor."
Kosten und Nutzen
"Das System hat naheliegende und lebensrettende Vorteile. So sind elektronische Dossiers eine gute Option etwa für Eltern, die so Zugang zu den Daten ihrer Kinder hätten, oder für Leute, die an chronischen Krankheiten wie Herzproblemen oder Diabetes leiden – vor allem bei Reisen ins Ausland", sagte Hansjörg Looser, Leiter e-Health im Kanton St. Gallen.
"Es wäre zum Beispiel eine natürliche Fortsetzung all jener Impfbüchlein, welche die Regierung bezahlt", so Looser. "Ich sehe nicht ein, wieso die Regierung ineffiziente Papiere berappen sollte."
Basierend auf einem Berechnungsmodell für die nächsten 20 Jahre bis 2031 rechnen Analysten der Unternehmensberatungs-Firmen Empirica und Ecoplan mit einem Nettogewinn von rund 3,5 Milliarden Franken für die elektronische Datenbank. Pro Jahr könnten gemäss den Forschern etwa 176 Millionen Franken oder 0,3% der öffentlichen Gesundheitskosten eingespart werden.
"Dieser Durchschnittswert berücksichtigt nicht, dass der jährliche Nettogewinn über die Jahre zunehmen wird, denn die Investitionskosten werden in den ersten paar Jahren unverhältnismässig hoch sein ", sagte Eliane Kraft von Ecoplan gegenüber swissinfo.ch.
Die aktuellen Kosten belaufen sich laut Schätzungen auf 1,6 Milliarden Franken für die nächsten 20 Jahre. Einschliesslich immaterieller Kosten wie etwa der Wert der Zeit für den Datenzugang könnten die Ausgaben auf rund 4,1 Milliarden ansteigen, wie die Forscher berechneten.
Sie erwarten, dass chronische Patienten von der Datenbank sofort profitieren könnten, während gesunde Menschen erst später einen Vorteil hätten. Spitäler würden ihre Investitionen drei bis vier Jahre nach Einführung wieder gutmachen, während gemäss dem Bericht des BAG und des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) die Ausgaben der Apotheken die Gewinne für längere Zeit übersteigen würden.
Anreize für Ärzte
Als Teil seiner e-Health-Strategie hat der Bundesrat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am 3. Dezember 2010 ersucht, einen Gesetzesentwurf für die Einführung, Verteilung und Förderung der Patienten-Datenbank auszuarbeiten.
Während des Konsultativ-Verfahrens sprachen sich drei Viertel der knapp 100 Beteiligten für den Gesetzesvorschlag über die Gesundheits-Datenbank aus. Ein Viertel zeigte sich grundsätzlich einverstanden, verlangte aber, dass gewisse Punkte überarbeitet werden.
Diskussionen über finanzielle Anreize für Ärzte und Alternativen zur 13-stelligen Sozialversicherungsnummer zur Patienten-Identifizierung haben das Verfahren verzögert.
Gesundheitsminister Alain Berset erklärte am 19. September, bis Mitte 2013 werde ein Entwurf für das neue Gesetz vorliegen.
Der Nationalrat, die grosse Parlamentskammer, verlangte am 20. September vom Bundesrat, die Einführung von finanziellen Anreizen für Ärzte zu fördern, um die Datenbank voranzutreiben.
Zusätzlich zur Start-up-Finanzierung soll die Regierung ein Anreizsystem für jene Ärzte schaffen, die elektronische Patientendossiers dokumentieren und austauschen.
Eine Mehrheit der Arztpraxen sträuben sich gegen die Einführung der Datenbank, weil sie hohe Investitions- und Betriebskosten befürchten.
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