Der Grenzgänger
Seit 160 Jahren durchquerte kein Europäer mehr die Sahara auf der einst wichtigsten Handelsroute von Süd nach Nord. Ein erster Versuch des Schweizers Andrea Vogel misslang.
Doch für Vogel ist der Weg das Ziel. Für ihn bedeutet Wüste mehr als reine körperliche Herausforderung. Sie ist auch ein Ort, um zu sich zu finden.
Auf den ersten Blick gehört er zu den Zeitgenossen, die den ultimativen Kick suchen. Zu denjenigen, die Dinge unternehmen, welche uns gewöhnlichen Erdenbürgerinnen und Erdenbürger in Staunen versetzen oder dann "Spinner" rufen lassen.
Der Bündner Andrea Vogel (48) nennt sich selber Expeditionsleiter, Fotograf, Grenzgänger. Und so schaut er auch aus: Gross gewachsen, kein Gramm Fett am Körper und drahtig bis in die Fingerspitzen.
Von Süd nach Nord
Anfang Januar 2006 brach Vogel in Begleitung von zwei Tuaregs und zehn Kamelen zu seinem grossen Abenteuer auf: 3000 Kilometer durch die Wüste Sahara wollte er zurücklegen.
Zu Fuss von Timbuktu nach Marrakesch. Ein Grenzgang im wahrsten Sinn des Wortes. Vor 160 Jahren hat zum letzten Mal ein Europäer diese Strecke zu Fuss zurückgelegt. Doch sein Versuch misslang: Nach rund 800 Kilometern wollte der erfahrene Tuareg-Führer nicht mehr weitergehen. Er fürchtete um Leben und Gut.
"Wenn ein so erfahrener Führer zu diesem Schluss gelangt, dann musste ich das akzeptieren. Allein weiterzugehen wäre sinnlos gewesen", sagt Andrea Vogel gegenüber swissinfo.
Das die vordergründige Geschichte rund um Rekorde und Hochleistungen, die wir und die Medien begierig aufsaugen. Doch ging es dem Grenzgänger Vogel um den Eintrag ins Guiness-Buch der Rekorde? Um die Bewunderung, wie sie einem Reinhold Messner oder Mike Horn zuteil werden?
Kultur
"Da sehe ich mich nicht", sagt Vogel. Klar gehe von seinem Vorhaben, die Wüste zu Fuss zu durchqueren, grosse Faszination aus. "Schaffe ich diese schwerste Wüstenquerung der Welt? Ist sie 160 Jahre nach der letzten Durchquerung überhaupt noch möglich? Auslöser waren diese Überlegungen aber nicht", präzisiert er.
"Fasziniert hat mich zu allererst der magische Name Timbuktu. Dieses heute schale und heruntergekommene Tor zur Wüste war die erste Universitätsstadt der Welt."
Der ganze Geist von Afrika habe in dieser Stadt geatmet und wurde dort gesammelt. "Es ist übel, wenn heute dort Bücher aus dem 9. Jahrhundert in Kellern lagern und von den verarmten Bewohnern Seite für Seite verramscht werden, um das karge Einkommen aufzubessern. Wertvolle Schätze gehen verloren."
Das sagenumwobene Timbuktu, so Vogel weiter, war Ausgangspunkt des historischen Handelweges nach Marrakesch. Gold, Salz und leider auch Sklaven waren die Hauptgüter, die verschoben wurden.
"Die kulturellen Hintergründe der Wüstenquerung zogen mich magisch an. So auch die Wüste. Dieser riesengrosse Raum, diese Ruhe, die Weite, die Luft. Alles Elemente, die ihn als Bergsteiger faszinieren." Ein Bergsteiger passe gut in die Wüste.
Heiss und kalt
"Sie müssen sich das vorzustellen versuchen ", sagt Vogel und sein Blick schweift zurück in die Sahara. Alles flach, so weit das Auge sehen mag. Eine riesige Tischplatte. Sand, Steine, in der Nacht kein Streulicht, kein Lichtsmog. Dann die Sterne, sternenklar. Und erst die Sicht: 180 Grad. Eine gigantische Halbkugel und er mittendrin. "Da kriege ich Hühnerhaut. Das ist unbeschreiblich."
Oder die Wechsel zwischen kalt und heiss. "Ich fror und litt gleichzeitig unter der Hitze. Vorne blies ein kalter Nordwind. Hinten brannte die Sonne auf meinen Rücken und verbrannte meine Kleider. Vorne 3 Grad. Hinten 30. Ein unbeschreiblicher Gegensatz."
Da ziehen Kamele ihres Weges. Geführt von den Beduinen. "Mir wurde plötzlich bewusst, dass wir 800 Kilometer vom nächsten Dorf weg waren."
Orientierungssinn
Ein immerfortes Schreiten wie in Trance, das helle Licht. Wie finden die Führer in dieser endlos ebenen Landschaft ohne sichtbare Anhaltspunkte die lebenswichtige Wasserstelle?
Nach vier Tagen taucht dieser Brunnen auf. "Wir sind an einem Ziel. Wie machen die das? Das beste Kartenmaterial hat mein Führer zurückgewiesen. Er verliess sich lieber auf sein Wissen und Können: Wie strömt die Luft, wie ist die Düne dort beschaffen? Oder war es der Geruch in der Luft, die Sonne, die Sterne, die ihn führten?"
"Ich habe es ganz herausgefunden. Es muss an den Überlieferungen vom Vater auf den Sohn oder gar in den Genen liegen. Führer sind hoch angesehene Männer. Nach vier Tagen treffen die einen Punkt in der Wüste. Wir würden im Kreis herum laufen."
Selbstfindung
Plötzlich wird das ganze tägliche Leben auf die wesentlichen Dinge reduziert: "10, 12, 14 Stunden gehen ohne Halt. Der erste Schluck Wasser nach 7 Stunden. Eine Karawane hält nicht an .Sie geht und geht, Auch dann wenn Du austreten musst. Sie nicht mehr einzuholen würde den Tod bedeuten."
Dann diese Nächte diese gewaltigen Nächte. "Die 180-Grad-Sicht auf die vermeintlich Millionen von Sternen. Wissenschafter haben mir gesagt, dass das menschliche Auge lediglich rund 6000 sehen kann. Aber es sind Millionen. Sie stehen und wandern so klar sichtbar, wie ich das noch nie gesehen habe. Ausser dem Polarstern. Wie ein fixer Punkt im Leben steht er am Firmament."
Die Wüste wird zum Ort, wo das Hinterfragen einsetze. "Ausgeklinkt aus unserer Hektik vom Geld beschaffen, Pflichten erfüllen, planen und verplanen. Hier in der Wüste, so scheint es, findest Du Dich. Reduziert sich Dein Dasein auf das Wesentliche, das nach und nach Form annimmt. Das Du nach und nach erspürst. Nach den Fragen tauchen, wie Dünen am Horizont, auch Antworten auf."
Demut gegenüber Schöpfung
Niemand, so Andrea Vogel, komme unverändert aus der Wüste zurück. "Alles Edle auf Erden ist von einfacher Art." In der Wüste sind es Himmel, Sand, Steine, Erde. Der beste Maler der Welt würde die Farben der Natur nicht treffen.
"Plötzlich lehrt die Wüste mich und Dich die eigenen Lebensprozesse auf sinnvollere Bahnen zu lenken. Eine gewisse Demut umhüllt Dich. Im Angesicht dieser Erhabenheit, die in der Schöpfung liegt. In der Du Teil, aber nur ein Kleiner bist. Woher komme ich – wohin gehe ich. Wo ist mein Ziel?"
Da plötzlich habe er an sein Mobiltelefon gedacht. "Ich muss ständig verbunden, ständig 'in Action' sein. In der Wüste geschieht - bezogen auf unser ständiges Verlangen nach Aktion, nach Innovation, nach Visionen, nach Tatkraft - wenig. Doch genau daraus erwächst das Verlangen, das eigene Sein zu hinterfragen."
swissinfo, Urs Maurer
In Kürze
2006 ist das Internationale Jahr der Wüste und Wüstenbildung. Der 5. Juni wurde von der UNESCO zum World Environment Day "Desert and Desertification" ernannt.
Jedes Land wurde aufgerufen, während dieses Jahres Aktivitäten zu organisieren, um das öffentliche Bewusstsein für die besondere Problematik arider Regionen zu sensibilisieren.
Das UNO-Sekretariat der internationalen Konvention zur Bekämpfung der Desertifikation (UNCCD) dient dabei als thematische Drehscheibe.
Die Schweiz wird mit verschiedenen Veranstaltungen einen Beitrag an das Jahr der Wüste leisten.
Dies wird zahlreiche Partnerschaften in der Schweiz und im Ausland nach sich ziehen. Vorgesehen ist zudem die Publikation einer thematischen Broschüre.
Federführend ist die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA).
Fakten
Der Schweizer Andrea Vogel wollte im Jahr der Wüste zusammen mit seinem Team, zwei Tuareg und 10 Kamelen 3010 km von Timbuktu (Mali) nach Marrakesch (Marokko) gehen.
Darunter unter anderem über den Hitzepol der Erde und über den Berg Jebel Toubkal (4167 m), den höchsten Gipfel Nordafrikas.
Nach 160 Jahren wäre er der erste Europäer, der auf den Spuren der Forscher René Caillié, Heinrich Barth und Oscar Lenz diese physische und psychische Leistung erbracht hätte.
Das Vorhaben musste nach 800 Kilometern abgebrochen werden.

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