Assistenten für mehr Autonomie der Behinderten
Für viele Behinderte ist es seit dem 1. Januar einfacher, zu Hause, statt in einer sozialen Institution zu leben. Mit dem Assistenzbeitrag können sie ihre Pflege und Betreuung selber organisieren und zuhause ein eigenständiges Leben führen.
Nach erfolgreich verlaufenen Pilotprojekten in drei Kantonen wurde der Assistenzbeitrag am 1. Januar 2012 landesweit eingeführt. Er ist eine der Massnahmen im Rahmen der 6. Revision der Invalidenversicherung (IV).
Damit übernimmt die Schweiz ein Modell, das seit mehr als 20 Jahren in den skandinavischen Ländern, in den USA und auch in den Niederlanden angewendet wird.
Laut Peter Wehrli haben die sieben Wochenstunden Assistenz, welche die IV für seine Frau bezahlt, das Leben seiner Frau und sein Leben verändert. Seit ihrer Kindheit ist die Frau behindert. Kürzlich haben sich ihre physischen Fähigkeiten verschlechtert. Seither ist sie nicht mehr in der Lage, selbst die einfachsten Hausarbeiten selber auszuführen.
"Plötzlich wurde ihre Abhängigkeit viel grösser", sagt Peter Wehrli: "Sie brauchte Hilfe beim Duschen, beim Anziehen, in der Küche und beim Einkaufen. Diese Assistenzperson hat sie gerettet, denn ohne diese könnte sie nicht mehr zu Hause leben."
Mehr Selbständigkeit
Ohne Hilfe könnte seine Frau auch die beiden Grosskinder nicht mehr betreuen, erzählt Wehrli: "Meine Frau kann ihre Rolle als Grossmutter nur übernehmen dank dieser Hilfe. Sie setzt ihr das Baby auf die Knie und wärmt den Schoppen."
Die IV bezahlt den Hilfen 32,50 Franken pro Arbeitsstunde. Peter Wehrli, der selber rollstuhlabhängig ist und das Zürcher Zentrum für selbstbestimmtes Leben leitet, liegt der grosse Vorteil des Assistenzbeitrags in der Tatsache, dass dieser es den Behinderten erlaubt, ihr Leben selbständig zu organisieren.
"Der Gedanke, dass behinderte Menschen in Heimen leben und dort gepflegt werden, ist überholt", sagt Wehrli: "Jetzt stellen wir den Behinderten die notwendige Unterstützung zur Verfügung, die es ihnen erlaubt, ihr eigenes Leben zu verwalten, aus ihrer Abhängigkeit zu treten und vollwertige Bürger zu werden."
Bessere Integration
Für Dominique Wunderle, Leiter der Westschweizer Organisation Cap-Contact, hat die neue Politik für behinderte Kinder und ihre Familien noch weitergehende Konsequenzen, als für behinderte Erwachsene.
So seien im Wallis mit seinen Bergtälern Institutionen für behinderte Kinder dünn gesät. Das habe bisher zur Folge gehabt, dass viele behinderte Kinder in geschlossenen Heimen, weitab vom Wohnort ihrer Eltern, untergebracht worden seien. Das Wallis war einer der Testkantone.
Dank der neuen – im Wallis bereits seit einigen Jahren eingeführten – Leistung der IV könnten die Kinder "bei ihrer Familie, bei ihren Schwestern und Brüdern leben, die öffentliche Schule besuchen und sich so besser integrieren", sagt Wunderle.
"Man weiss, dass ein Kind, das in einer lokalen Schule integriert ist und das im Rahmen einer Familie aufwächst, später die besseren Chancen hat, sich beruflich zu entwickeln und zu integrieren."
Arbeitgeber werden
Peter Wehrli stellt bei Kindern, die vorher in einem Heim und nun seit einigen Jahren in der Familie leben, "wunderbare" Veränderungen fest: "Wer einen persönlichen Assistenten hat, muss raus gehen, Einkaufen und sich um seine administrativen Angelegenheiten kümmern. Das hat zur Folge, dass sich die Leute mehr verantwortlich und sicherer fühlen."
Doch das Modell hat auch seine Schattenseiten. Eine der grossen Schwierigkeiten für die Behinderten ist es, ein guter Arbeitgeber zu werden. "Zwischen den Betreuern und den behinderten Menschen entstehen sehr intime Beziehungen", sagt Peter Wehrli.
"Wie kann man Chef sein von einer Person, die einem täglich den Hintern wischt? Für den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer ist es nicht einfach, die richtige Distanz und gleichzeitig die richtige Nähe zu finden."
"Zeit verloren"
Es sei schwierig, Leute zu finden und auszubilden, die sich als Betreuer eigneten, erzählt Wehrli. Wunderle weist auf die restriktiven Regeln hin, welche die Behinderten einhalten müssen, um von der IV einen Assistenzbeitrag zu erhalten. So sind Schüler, die nicht die übliche öffentliche Schule besuchen oder eine Berufsausbildung machen, davon ausgenommen. Ebenfalls nicht bezugsberechtigt sind behinderte Erwachsene, die einen Vormund haben.
"Es brauchte 20 Jahre, um dieses System in der Schweiz einzuführen", sagt Wunderle. "Das System existiert in andern Ländern seit Jahren, die Schweiz hat bei der Einführung viel Zeit verloren. Dennoch haben wir einen grossen Schritt gemacht, indem wir den Behinderten die Wahl gegeben haben zwischen einem Leben in einem Heim oder einem Leben zu Hause."
Invalidenversicherung
Die Invaliden-Versicherung (IV) wurde 1960 gegründet. Sie hat den Auftrag, Behinderte und chronisch kranke Menschen in den Arbeitsprozess zu integrieren und darf hierzu finanzielle Mittel zur Umschulung sprechen. Sie richtet eine Rente aus, wenn die Integration in die Arbeitswelt nicht möglich ist.
Die IV-Leistungen wurden stets ausgeweitet. Doch Ende der 1990er-Jahre gab es eine Trendwende. Die Gesetzgebung zielt seither darauf ab, die IV-Versicherung zu sanieren. Der starke Anstieg an IV-Bezügern hat die Versicherung tief in die roten Zahlen abgleiten lassen.
Die Massnahmen, die mit der 4. und 5. IV-Revision ergriffen wurden, reichten nicht, um die Bilanzen wieder ins Lot zu bringen. Ende 2009 belief sich das Defizit auf 13,9 Milliarden Franken.
Am 27. September 2009 haben Volk und Stände in einer Eidgenössischen Abstimmung "Die befristete Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung" gutgeheissen. Der Normalsatz der Mehrwertsteuer wird 2011 bis 2017 leicht angehoben – auf 8%. Mit den Mehreinnahmen soll die IV saniert werden.
Diese Zusatzfinanzierung war mit der Pflicht verknüpft, dass die Regierung bis Ende 2010 eine 6. IV-Revision vorlegt, um die langfristige finanzielle Stabilität der Versicherung zu garantieren. Die Regierung hat diese Reform in zwei Schritten angepackt.
Das Parlament berät nun das erste Massnahmenpaket, das die Reduzierung von 12‘500 IV-Renten in den kommenden sechs Jahren anstrebt. Dies soll vor allem durch die berufliche Wiedereingliederung von Behinderten geschehen. Doch es gibt ein praktisches Problem: Es fehlen die entsprechenden Arbeitsplätze.
Ein zweites Reformpaket, die Revision 6b, ist im Parlament noch hängig. Das Ziel der Regierung ist es, diese Revision bis 2015 in Kraft zu setzen. Sie soll Einsparungen von 325 Millionen Franken pro Jahr bringen.
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