Dreifuss: Tiefpunkt politischer Polarisierung überwunden
Bundesrätin Ruth Dreifuss glaubt, dass die Schweiz die jüngste Krise sozialpolitisch gut gemanagt habe. Allerdings sei sie hinsichtlich der Working Poor wenig optimistisch, sagte sie in einem Interview mit dem "Tages-Anzeiger".
Die Krise der 90er-Jahre habe den contrat social - den Gesellschaftsvertrag - sehr strapaziert, sagte Dreifuss in dem am Montag publizierten Interview. "Ich glaube aber, dass wir jetzt den Tiefpunkt einer politischen Polarisierung überwunden haben, die immer wieder den Grundgedanken des Sozialstaates in Frage stellte."
Die empfohlenen Rezepte hätten sich weitgehend als nicht praktizierbar erwiesen und seien als Rückschritt entlarvt worden. "Die Tabula-rasa-Ideologie, die wir in der AHV und anderswo hatten, ist passé", zeigte sich Dreifuss überzeugt. Das politische System habe sich letztlich als solide erwiesen. Wenn es nämlich ernst werde, zitterten die Politikerinnen und Politiker, die einen Abbau anstrebten, vor dem Volk.
Im Vergleich mit andern Ländern habe die Schweiz die jüngste Krise sozialpolitisch eher gut gemanagt, sagte Dreifuss weiter. Die Härte der 90er-Jahre habe mit der Arbeitslosen-Versicherung materiell für viele abgefedert werden können.
Wenig Optimismus
Dreifuss glaubt allerdings auch, dass die Fähigkeit, alle zu integrieren, abgenommen hat. Die Gesellschaft sei neu mit den Problemen der so genannten Working Poor und der Ausgesteuerten konfrontiert. "Man hat den Eindruck, es laufe ein steter Prozess des Ausschlusses für Menschen, die sich in einer härter werdenden Gesellschaft weniger gut behaupten können. Ich bin nicht optimistisch, dass die Gesellschaft zu einer grösseren Integrationskraft zurückfindet."
Es brauche neue Instrumente, um die Lücken im System zu schliessen. Entweder, so Dreifuss, man baue die Ergänzungs-Leistungen aus oder man schaffe im Rahmen der Sozialhilfe nationale Standards mit einem Rechtsanspruch. Dafür gebe es in den Kantonen Genf und Tessin interessante Modelle, die von den Bezügern eine Gegenleistung verlangten, sei es in Form von Ausbildung, Familienpflichten oder Arbeit.
Bei der 11. AHV-Revision sei das Parlament bestrebt, ein besseres Paket zu schnüren. Darüber sei sie sehr glücklich, sagte Dreifuss. Die Vorlage des Bundesrates sei nicht sehr sozialverträglich gewesen. Auch bei der BVG-Revision, wo es um die Besserstellung der Teilzeitarbeit in der beruflichen Vorsorge gehen sollte, sei der Bundesrat "nicht der Mutigste" gewesen, sagte Dreifuss. In den 80er-Jahren habe es eine Zeit gegeben, da der Bundesrat progressiver gewesen sei als das Parlament. Jetzt sei es eher umgekehrt. Aber die Vorlage sei auf gutem Weg.
swissinfo und Agenturen

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