Die Schweizer Justiz bewegt sich doch
Für eine Lappalie muss ab dem 1. Januar 2007 niemand mehr hinter Gitter. Stattdessen werden kleine Delinquenten zahlen oder eine gemeinnützige Arbeit verrichten müssen.
Das ist eine der Neuerungen im revidierten Strafrecht. Die wesentlichste tritt aber erst 2010 in Kraft, nämlich die Vereinheitlichung der Strafprozess-Ordnung.
Seit 1942 hat das Schweizer Strafgesetzbuch (StGB) eine einzige bedeutende Änderung erfahren. 1971 hat der Gesetzgeber das System der Halbfreiheit eingeführt sowie die Möglichkeit, Strafen von weniger als 18 Monaten auf Bewährung auszusprechen.
Aber seither räumen Juristen und Politiker ein, dass einige Wochen hinter Gittern nicht wesentlich zur Sozialisierung des Täters beitragen. Deutschland hat die kurzen Strafen vor 30 Jahren abgeschafft. Und in der Schweiz haben sich die politischen Vorstösse für eine Revision des Sanktionssystems vervielfacht.
Hinzu kommt, dass die Gefängnisse heute in der Schweiz überbelegt sind. Auch wenn die Regierung in der Botschaft schreibt, dass es nicht das Ziel sei, diese zu entlasten, wäre ihr ein solcher Effekt dennoch sehr willkommen.
Eine wirtschaftliche Untersuchung
Ab dem 1. Januar 2007 sollten die Richter also nur noch ausnahmsweise Strafen von weniger als 6 Monaten verhängen.
Die meisten kleineren Strafen werden in Geldbussen zu Tagessätzen umgewandelt. Um den Preis festzulegen, muss der Richter das Einkommen, das Vermögen, Schulden, Verantwortung für Kinder des Verurteilten usw gewichten.
Der höchste Tagessatz beträgt laut Gesetz 3000 Franken. Möglich sind maximal 360 Tagessätze. Die höchste Geldstrafe beträgt damit 1,08 Mio. Franken.
30'000 für Temposünder?
"Meines Wissens wird der Betrag für Ordnungsbussen nicht ändern", beschwichtigt Gérard Piquerez, Präsident des jurassischen Kantonsgerichts und Rechtsprofessor an den Universitäten von Freiburg und Bern.
Allerdings ist es richtig, dass eine schwere Gesetzesübertretung, die einer Gefängnisstrafe von 10 Tagen entspräche, in eine Busse von 30'000 Franken (10 x 3'000.-) umgewandelt werden könnte, wenn der Verkehrssünder sehr vermögend ist.
Für Gérard Piquerez liegt das wirkliche Problem aber woanders. "Das ist nicht mehr Strafrecht", mutmasst er. "Wenn die Opfer feststellen, dass jemand zu einer 180 Tagessatz-Busse zu einem Franken verurteilt wird, weiss ich nicht, wie sie reagieren werden..."
Der Realität angepasst
Der Richter könnte die Tagessatz-Bussen auch in gemeinnützige Arbeit umwandeln (in Spitälern, Altersheimen oder Gemeinden) im Verhältnis von 4 Stunden Arbeit pro Tag. Dieses System existiert in einigen Kantonen bereits.
Man wird auch viel häufiger auf Halbgefangenschaft und auf das elektronische Armband zurückgreifen. Die Richter haben zudem mehr Möglichkeiten, die Strafen zu kombinieren.
Abgesehen von dieser Strafpalette für kleine Delikte wurde das Strafgesetzbuch auch der Entwicklung insbesondere von grenzüberschreitenden und Wirtschaftsdelikten angepasst.
Möglich wird zum Beispiel die Verfolgung sexueller Delikte in der Schweiz, die im Ausland begangen wurden. Das Strafgesetzbuch beinhaltet auch Regeln über die strafrechtliche Haftung der Unternehmungen.
Projekt des Jahrhunderts
Wenn alles gut geht, wird die Schweiz ab 2010 ihre 26 kantonalen Strafprozess-Ordnungen (StPO) durch ein einheitliches Gesetz ersetzt haben, welches das Funktionieren der Gerichte regelt.
Der Gesetzgeber will damit in der Justiz allen die gleichen Rechte garantieren und die Zusammenarbeit sowohl unter den Kantonen wie mit andern Ländern begünstigen.
Mächtiger Staatsanwalt
Die auffälligste Neuerung ist das Verschwinden der Untersuchungsrichter, welche bisher die Ermittlungen bis zur Übergabe des Dossiers an das Gericht geleitet haben. Von nun an sind die Ermittlungen und die Voruntersuchungen Sache des Staatsanwalts, der später auch während der Gerichtsverhandlung die Anklage führt.
laut Gérard Piquerez hat diese Machtkonzentration in den Händen eines mächtigen Staatsanwalts etwas Störendes.
"Meiner Meinung nach wird ein Staatsanwalt, der die Begleitumstände einer Ermittlung von Anfang hütet, nicht zwingend gleichermassen nach Belastendem und Entlastendem ermitteln, wie dies normalerweise die Untersuchungsrichter tun", vermutet der Piquerez.
Der Entwurf führt deshalb ein wichtiges Gegengewicht zur Macht des Staatsanwalts ein. In seiner aktuellen Version erlaubt er dem Beschuldigten, schon bei den ersten Ermittlungen die Hilfe eines Verteidigers zu beanspruchen.
"In der Schweiz ist man darauf nicht vorbereitet. Die Polizei ist sich nicht gewohnt, schon bei ersten Ermittlungen Rechtsanwälten gegenüberzustehen", betont Gérard Piquerez.
Reihenweise Rekurse
Erhalten bleibt auf der anderen Seite die Möglichkeit für den Angeklagten, gegen jeden Entscheid des Staatsanwalts Rekurs einzureichen - ob während der Voruntersuchungen oder während der polizeilichen Ermittlungen.
Gérard Piquerez ist überzeugt, dass die Rechtsanwälte nicht zögern werden, von diesem Recht Gebrauch zu machen. "Das Verfahren wird aufwändiger. Die Rechtsprechung wird mit dieser Vervielfachung der Rekurse langsamer und mehr Schreibkram benötigen".
swissinfo, Marc-Andrée Miserez
(Übertragen aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
Gesetzbuch für Übeltäter
Das Strafgesetzbuch (StGB) ist, wie es die Rechtspraktiker formulieren, ein Gesetzbuch "für Übeltäter". Es definiert die Gesetzesübertretungen und die Verantwortlichkeit der Delinquenten.
Das Schweizerische StGB datiert aus dem Jahr 1942. Jeder Kanton hat ebenfalls seine Strafgesetze, die aus dem eidgenössischen abgeleitet sind.
Die Revision – sie tritt am 1. Januar 2007 in Kraft – ist das Produkt eines umfangreichen gesetzgeberischen Prozesses, der schon 1987 begann. Die Kantone haben ihre Gesetze dem neuen StGB angepasst oder werden es nun nachholen.
Das Gesetzbuch der Ehrlichen
Die Strafprozessordnung (StPO) ist das "Gesetzbuch der ehrlichen Leute". Sie hält die öffentlichen Rechte fest und unterstellt deren Einschränkungen der Gerichtskontrolle.
In der Schweiz gibt es 26 verschiedene StPO (für jeden Kanton eine) sowie drei eidgenössische Gesetze dazu. Das sind mehr als in der ganzen Europäischen Union. Die Frage nach einer Vereinheitlichung wird seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gestellt.
Die Arbeiten für die Schaffung einer einheitlichen StPO haben 1994 begonnen. Der Entwurf der Regierung muss nun von beiden Parlamentskammern gebilligt werden. Inkrafttreten wird die StPO voraussichtlich 2010.

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