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Der Wunderbaum im Auto

Autolust - eine Ausstellung in Lenzburg. Brun & Bürgin, Zürich

Autofahren ist mehr als die Zeit in einer Blechbüchse zwischen A und B. Mit Ironie, Witz und Autoverstand verfolgt die Ausstellung "Autolust" die automobile Leidenschaft.

Dieser Inhalt wurde am 19. Februar 2002 publiziert Minuten

Autos wecken Emotionen, stillen Sehnsüchte, bedeuten Freiheit und Abenteuer.

Im Jahr 2000 wurden in der Schweiz 47,4 Mrd. Kilometer mit dem Auto zurückgelegt. Dies entspricht zehnmal der Distanz zwischen Sonne und Pluto.*

Sie heissen Volvo, Mercedes, Renault, Fiat, BMW, VW, MG, Ford, Honda, Lancia, Subaru, Saab, Peugeot, Jaguar und Seat. Offiziell. Und haben Zweitnamen wie: Baba, Schätzeli, Kutsche, Geronimo, Orange, Flitzerli, Kistli, Süffel. Inoffiziell. Autos.

Sie besitzen - je nach Model - einen elektronisch gesteuerten Allradantrieb, 18-Zoll-Räder, Klimaanlage, Pollenfilter, Sonderpakete, eine Querlenker-Vorderrad-Aufhängung und eine Spoilerlippe. Sie sind als Occasion genauso begehrt wie neu: Autos.

Allen Staus, Parkplatzproblemen, Verkehrs-Beruhigungen, Verkehrs-Opfern und Umweltsünden zum Trotz, die Nation fährt Auto und wie! Es muss Lust, ja Liebe sein. Es ist das Verdienst der Ausstellung in Lenzburg die Ratio, die vielzitierte, zu umfahren, Emotion zu Wort kommen zu lassen. Und gleichwohl zum automobilen Boxenstop anzuregen.

In der Schweiz werden jährlich rund eine Milliarde Franken für Autozubehör wie Felgen oder Spoiler ausgegeben. 30-mal mehr, als die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für Kultur ausgeben kann.

15 Rauminstallationen beleuchten die Lust am Autofahren aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Ohne ein einziges Auto auszustellen, dafür mit vielen Tondokumenten, Filmen und taktilen Installationen führen die Ausstellungs-Macher die komplexe Beziehung zwischen Automobil und Fahrenden, zwischen PS und Duft-Wunderbaum vor.

Wer mit dem Auto anreist und parkiert wird bereits Teil der ersten Inszenierung. Im Kreise sind die Parkplätze angeordnet, umgeben von Tausenden von Plastik-Narzissen, beschallt mit der Nachtigall Gesang. Automobil und Natur oder Gegensätze ziehen sich an.

Drinnen werden die Besuchenden von 300 Fotos empfangen: Schulklassen fotografierten Hunzenschwilerinnen und Hunzenschwiler vor, neben, im und auf dem Auto.

Agglomerations-Bürger mit stolz geschwellter Brust, mit Frau, Kind, Hund. Im Mittelpunkt das Objekt der Begierde: Ihr Auto. Und schmunzelnd drängt sich die Frage auf, wie man persönlich auf so einer Fotografie aussehen würde.

Der Strassenverkehr fordert weltweit 1.4 Mio. Menschenleben pro Jahr, das entspricht 4000 vollbesetzten Jumbo-Grossraumflugzeugen.

Das Auto, Gebrauchs-Gegenstand und Symbolträger. Frust- und Lustvermittler. Erweiterung des (Eigen)Heims, Rückzugsort inmitten der Öffentlichkeit. Das Auto ein Alltagsphänomen. Ort des unkontrollierten Mitsingens, Nasenpoppelns, Fluchens, Aggressionsabbaus. Ich bin drinnen und doch draussen.

Fasziniert schauen wir uns sechs Video-Porträts, sechs Auto-Biografien an. Lauschen den Worten. "Was mir unwichtig ist? - Der Benzin und Gummiverbrauch. Und wenn ich so richtig auf den Knebel drücke, nimmt Baby 13 Liter." Lassen uns im bequemen Autosessel zu einer Sonntagsfahrt ausfahren, lesen was Hermann Burger, Marcel Proust, Hermann Hesse, Annemarie Schwarzenbach literarisch und privat zum Thema Auto zu Papier brachten.

Lernen die Bedeutung eines Lernfahrausweises kennen, schauen einem an der Autobahn zu Tode gekommen Raubvogel ins ausgestopfte Angesicht. Erfahren viel über die Wichtigkeit von Automobil-Clubs (sie kennen keine Nachwuchsprobleme), bewundern den hölzernen Autosarg in Form eines Mercedes aus Ghana.

Und wissen am Schluss, wenn wir wieder draussen die Nachtigall hören, eines mit Gewissheit: Die Beziehung zwischen Mensch und Auto ist viel mehr als die Summe aller Blechteile. Und mit reiner Morallehre ist dem automobilen Wahnsinn nicht beizukommen.

Brigitta Javurek

*Alle Zitate sind dem zur Ausstellung erschienenen Buch "Autolust - Ein Buch über die Emotionen des Autofahrens", Herausgeber: Stapferhaus Lenzburg, entnommen.

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