Das Tessin setzt auf Englisch
Im Tessin werden die Fremdsprachen neu gewichtet. Französisch bleibt erste Fremdsprache, Englisch soll neu obligatorisch werden. Das Deutsche muss Federn lassen.
Das Tessin hat bei der Abfolge von Fremdsprachen in der Schule eine besonders harte Nuss zu knacken. Als italienische Sprachminderheit muss es die eigene Sprache verteidigen, aber auch auf nationale Sprachen setzen, um den Kontakt mit den Mehrheiten im Land zu ermöglichen.
Gleichzeitig nimmt der Druck im Südkanton zu, die Jungen endlich mit den nötigen Englischkenntnissen in die Welt zu schicken. Bisher ist Englisch nur ein Wahlfach in der vierten Oberstufenklasse. Dies erklärt, warum viele Tessinerinnen und Tessiner überhaupt nicht oder nur schlecht Englisch sprechen.
Das Erziehungsdepartement hat gestern einen Vorschlag in die Vernehmlassung geschickt, der allen Bedürfnissen besser gerecht werden soll. Demnach beginnen die Kinder wie bis anhin mit Französisch in der dritten Primarklasse. In der zweiten Klasse Oberstufe wird neu Englisch als Pflichtfach eingeführt. In der dritten Klasse kommt Deutsch obligatorisch hinzu, während Französisch fakultativ wird.
Abwertung für das Deutsche
Unter dem Strich bedeutet dies in der obligatorischen Schule für das Deutsche eine Abwertung, da bisher in der zweiten Oberstufenklasse begonnen wurde. Aus drei Jahren Deutschunterricht werden zwei. Für Schülerinnen und Schüler, die nach der einheitlichen Oberstufe das Gymnasium besuchen, kehrt sich das Verhältnis gegenüber heute um. Mit der Matur haben sie sieben Jahre Englisch, sechs Jahre Deutsch und fünf Jahre Französisch gelernt. Letztere Sprache soll auf der Sekundarstufe nur als Wahlfach bleiben. Genauso wie Latein und Griechisch.
Angst vor Dominanz des Englischen
Das Departement hat sich bei seinem Vorschlag an das Prinzip gehalten, dass die erste Fremdsprache in der Schule eine nationale Sprache sein muss. Departementsvorsteher Gabriele Gendotti (FDP) unterstrich gestern in Bellinzona vor den Medien, dass er diesen Entscheid aus politischen und kulturellen Gründen innerhalb einer konföderalen Eidgenossenschaft für unabdingbar halte. Und kritisierte erneut die Pläne einiger Deutschschweizer Kantone: "Ich befürchte, dass sich dort eine Zweisprachigkeit aus Schweizerdeutsch und Englisch durchsetzt".
Maximal zwei Fremdsprachen gleichzeitig
Im vorgeschlagenen Tessiner Modell werden nicht mehr als zwei Fremdsprachen gleichzeitig unterrichtet. Grund: Schon jetzt ist das Programm für die Schülerinnen und Schüler reich befrachtet. Und insbesondere der Unterricht des Italienischen darf nicht zu kurz kommen, wie der Tessiner Schulamtsleiter Diego Erba auch in Anbetracht der Ergebnisse der Pisa-Studie unterstrich. Gemäss dieser Erhebung schnitten Schweizer Schüler bei den Lesekenntnissen in ihrer Muttersprache nicht gerade brillant ab.
Ein wichtiges Element der Tessiner Reform ist zudem die Weiterführung von obligatorischem Fremdsprachenunterricht in den Berufsschulen. Knapp die Hälfte aller Lehrlinge lernt heute keine Fremdsprache mehr. "Wir müssen es schaffen, dass alle Lehrstifte bis zum 18. Lebensjahr eine Fremdsprache lernen und die Kenntnisse der Oberstufe nicht verloren gehen", mahnte Mario Prati von der Abteilung für Berufsbildung.
Wirtschaft will Stärkung des Deutschen
Die Vernehmlassung läuft bis Februar. Die Vorschläge sollen dann möglichst schnell umgesetzt werden, teilweise schon im Schuljahr 2002/2003. In der kommenden Debatte ist insbesondere ein Druck von Wirtschaftsseite erwarten, das Deutsche in den ersten Schuljahren auf- und Französisch abzuwerten.
Seit 1970 wird Französisch in der Primarschule gelehrt. Da diese Sprache dem Italienischen nahe steht, hielt man sie geeignet, um die Freude an einer Fremdsprache zu wecken. Ausserdem unterstrichen Pädagogen den qualitativen Aspekt, der es Italienischsprachigen erlaubt, Französisch nicht nur als Kommunikationsinstrument, sondern auch als Sprache mit ihrem kulturellen und literarischen Background zu erfassen.
Aber Gendotti erklärte gestern, dass "besonders Deutsch für uns Tessiner eine unabdingbare Bedingung ist, um uns in der Schweiz in der Arbeitswelt zu behaupten." Kein Wunder: Die Kontakte zwischen dem Tessin und der Deutschschweiz sind wesentlich intensiver als zwischen dem Tessin und der Romandie.
Gerhard Lob, Bellinzona

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