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Atelier 5 oder Architektur mit Menschen

Die Halensiedlung in der Nähe von Bern. Atelier 5

Interessierte aus ganz Europa und gar Japan pilgern nach Bern, um Bauten des Atelier 5 zu besuchen. Das Architekten-Kollektiv feiert seinen 50. Geburtstag.

Dieser Inhalt wurde am 08. September 2005 - 08:56 publiziert

Besonders die Siedlungen des A5 geniessen Weltruhm. Sie sind charakterisiert durch eine differenzierte Definition von öffentlichem und privatem Raum.

Fünf junge Architekten und eine Waldlichtung: So beginnt Mitte der 1950er-Jahre vor den Toren der Stadt Bern die Erfolgsgeschichte des Atelier 5.

Die Autodidakten, allesamt Anhänger Le Corbusiers, bauen dort, genauer in Herrenschwanden in der bäuerlich geprägten Gemeinde Kirchlindach, die Siedlung Halen.

Konsequent als städtische Anlage konzipiert, besteht Halen aus fünf Häuserreihen mit rund 80 Wohnungen, Schwimmbad, Sportanlagen, gemeinsamer Waschküche und Einstellhalle. Das Herz ist der zentrale "Dorfplatz", mit Einkaufsladen und Gemeinschaftsraum.

"Wohnmaschine" ins Gras gelegt

Mit dem Ensemble holen die Atelier-5-Architekten die Unité d'Habitation, die "Wohnmaschine" Le Corbusiers in Hochhausform, in die Horizontale, und betten sie in das Grün des sanft abfallenden Aarehangs.

Die Merkmale aber waren dieselben: Nüchterne Betonästhetik, verdichtetes, urbanistisches Ensemble mit Gemeinschaftsanlagen, geprägt von einer genauen Definition der Übergänge von öffentlichem, halböffentlichem und privatem Raum.

Das internationale Aufsehen war gross, die Reaktionen der Einheimischen aber oft ablehnend: "Tausende von Interessierten besichtigten die Musterhäuser, aber die meisten rümpften die Nase", erinnert sich Fritz Thormann, einer der fünf Gründer des A5.

Ode an den Beton

Waren die Innenräume noch weiss verputzt, dominierte Sichtbeton den Aussenraum. Bis heute ist der Beton der "Lieblings-Baustoff" des A5 geblieben. Spätere Siedlungen weisen gar überall, also auch in den Wohnräumen, Sichtbeton auf.

Das Atelier 5 habe den Beton gern, sagte Jacques Blumer einmal in einem Vortrag . Er war schon als junger Architekt beim Bau der Siedlung Halen dabei. Heute ist er immer noch im Kollektiv, lehrt aber auch als Professor an der Universität Genf.

Beton sei ein "natürliches" Material, zusammengesetzt aus Sand, Wasser und Zement, letztlich ein Stein, erklärt Blumer. "Beton ist ein Material, das sich der Natur nicht widersetzt, sondern sie annimmt, ein Material, das einem komplexen Gesamtgebilde durch seine Einheitlichkeit Ordnung verleiht und schließlich ein Material, das der Einfachheit im Ausdruck wie der Einfachheit im Detail entgegenkommt."

Schwerpunkt Grosssiedlungen

A propos Komplexität: War Halen in ihrer Anlage noch sehr einfach und klar, hat das A5 diese leicht lesbare Struktur in seinen späteren Siedlungen aufgebrochen: Die neueren Siedlungen können für Besucher schon mal zum Labyrinth werden. Verloren geht aber darin niemand.

Im Gegenteil: Dem aufmerksamen Auge bietet sich um jede Ecke, mit jeder Treppenstufe ein Blick auf Neues, auf einen kleinen Platz oder in einen grünen Vorhof.

Verändert hat sich auch die Grösse der Siedlungen. Vor allem in Deutschland baute das A5 ganze Quartiere neu: Grosssiedlungen des A5 mit mehreren hundert Wohnungen stehen beispielsweise im Hafenviertel in Hamburg sowie in Main und Frankfurt am Main.

Ort des Aufbruchs

Die Siedlungen stellen öffentlichen, halböffentlichen und privaten Raum zur Verfügung - Plätze, Vorhöfe und Wohnungen. Die Bewohnern wählen, wann sie sich wo bewegen wollen. Priorität hat aber klar der Schutz der Privatsphäre.

In den frühen 1960er-Jahren, just als Halen fertig gebaut war, kam der gesellschaftspolitische Aufbruch auch in die Schweiz. Nicht zufälligerweise waren unter den ersten Bewohnern besonders viele Freiberufler, Künstler und Nonkonformisten.

Sie füllten das Wohn- und Lebensmodell Halen mit langen Diskussionen bis tief in die Nacht, Boulespiel oder Festen mit Konzerten und Filmvorführungen.

Toleranz

Wer an diesem öffentlichen Leben in Halen nicht teilnahm, wurde deswegen aber nicht als "Spiesser" geschnitten. Toleranz, Respekt und Rücksichtnahme sind bis heute Grundpfeiler des Wohnorts Halen wie auch der anderen A5-Siedlungen.

Diese Atmosphäre prägte auch viele Halen-Kinder, wie die Sozialanthropologin und Architektin Nancy Wiesmann in ihrer Studie "Die Kinder der Siedlung Halen – Lebenserfahrungen mit Architektur und Städtebau" schreibt. Diese gehörten damals zu den geburtenstarken Jahrgängen und waren deshalb besonders zahlreich.

"Kinder der ersten Halen-Generation haben soziale Einstellungen, sind offen und tolerant", so Wiesmann. Ihre Erklärung: "In Halen leben sehr viele verschiedene Leute sehr nah beieinander."

Die bevorzugte Lage der Siedlung sowie die zahlreichen gemeinschaftlichen Einrichtungen eröffneten den Kindern grosse Freiheiten. Weitere Vorteile: "Es hat keine Gefahren, da die Siedlung verkehrsfrei ist, und es hat so viele Kinder, dass man zum Spielen gar nicht abmachen muss", sagt Wiesmann. Auch sei kein Transport zum Spielplatz nötig.

Kein total strukturierter Raum

Die Siedlung mit ihren Gassen, Plätzen, Gemeinschaftseinrichtungen und die Umgebung (Wald) bieten laut Wiesmann unendliche und vielseitige, Möglichkeiten in Form "nicht total strukturierter Räume". Dies sei für die Fantasie, die in der Entwicklung der Kinder eine grosse Rolle spiele, sehr wichtig.

Wiesmann erwähnt noch einen sozialen und psychologischen Aspekt: Halenkinder hätten die traditionelle Familienstruktur oft erweitert. Die Nachbarskinder und deren Eltern wurden als Mitglieder einer grossen Familie aufgefasst. Voranmeldungen für Besuche waren nicht nötig, Mittagessen waren einmal dort, einmal hier.

All dies ist aus heutiger Sicht – glücklicherweise – nichts besonderes mehr. Der Unterschied: In Halen funktioniert(e) es ohne Organisation.

swissinfo, Renat Künzi


Buch: Nancy Wiesmann Baquero, Die Kinder der Siedlung Halen – Lebenserfahrung mit Architektur und Städtebau, Simowa Verlag, Bern.
Bezug via Mail: publikation.halen@bluewin.ch

In Kürze

Das Atelier 5 (A5) schuf sich international einen Namen mit ihren Siedlungen.

Neben zahlreichen Siedlungen, Um- und Erweiterungs-Bauten in und um Bern (jüngeres Beispiel: Bahnhof Bern) baute das A5 Gross-Überbauungen vor allem in Deutschland.

Die Bauten sind charakterisiert durch eine kühle Betonästhetik, Konzeption als verdichtetes, urbanistisches Ensemble, Gemeinschafts-Anlagen und eine genauen Definition der Übergänge von öffentlichem, halböffentlichem und privatem Raum.

Das Atelier 5 funktioniert als Kollektiv, die einzelnen Mitglieder verstehen sich explizit als Häuserbauer, nicht als "Architektur-Stars".

Die Kunsthalle Bern würdigt das 50-jährige Jubiläum des A5 gegenwärtig mit der Ausstellung "Atelier 5: 9 Bauten, 9 Künstler".

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